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FOTOGRAFIE Gilligans Elend

Das Folterfoto eines irakischen Gefangenen in Abu Ghuraib spiegelt die moralische Katastrophe Amerikas.
aus DER SPIEGEL 53/2009

Sie nannten ihn Gilligan, ein Spitzname, Gilligan wie in »Gilligan's Island«, der lustigen amerikanischen Fernsehserie über ein paar Schiffbrüchige, die ums Überleben kämpfen. Fast alle irakischen Gefangenen hatten von den Wärtern in Abu Ghuraib Spitznamen bekommen, »Slash«, »Taxi Driver«, »Santa Claus« oder »Piggy«. Die fünfstelligen Gefangenennummern konnte sich kaum jemand merken; wie sie tatsächlich hießen, war oft unklar.

Bis heute ist Gilligan nicht zweifelsfrei identifiziert, es gibt kein Gesicht. Auf dem weltberühmten Foto trägt er einen schwarzen Sack über dem Kopf. Gilligan ist der Kapuzenmann, das Sinnbild für die moralische Katastrophe der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Im Frühjahr 2004 schockierten die Bilder aus dem Gefängnis Abu Ghuraib bei Bagdad die Welt: Amerikanische Militärpolizisten hatten fotografiert, wie sie gefangene Iraker erniedrigten und quälten, sie vorführten wie Trophäen. Die Häftlinge mussten, angeleint wie Hunde, auf allen vieren kriechen oder nackt für ihre Peiniger posieren, wie Sklaven. Auf einigen Bildern sind auch Tote zu sehen.

Die Fotos lösten Wut aus, Ekel und Scham. Sie setzten Diskussionen in Gang, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Sie führten zu Prozessen, bei denen allerdings fast ausschließlich US-Soldaten am unteren Ende der Befehlskette verurteilt wurden.

Hunderte Skandalfotos aus Abu Ghuraib wurden bekannt, doch eingeprägt ins kollektive Gedächtnis hat sich vor allem das Bild vom Kapuzenmann. Der Kapuzenmann prangte bald auf allen Titelseiten, auch des SPIEGEL (19/2004), auf Plakaten, Handzetteln, T-Shirts, Moscheewänden und schließlich in Kunstausstellungen. Der britische Künstler Marc Quinn stellte 2009 eine Skulptur namens »Mirage« vor, den Kapuzenmann aus schwarz patinierter Bronze. »Der elektrisch gekreuzigte Kapuzenmensch wurde zur Ikone stilisiert«, schrieb Martin Walser. Warum gerade dieses Foto?

Weil es mindestens so viel verbirgt, wie es zeigt. Wir sehen einen Mann, der hilflos auf einer kleinen Pappkiste steht, einen Sack über dem Kopf. Er ist barfuß, bekleidet nur mit einer Art Poncho - einer Gefängnisdecke, in die ein Wärter ein Loch hineingeschnitten hatte. Seine Arme hat er ausgebreitet wie Flügel, an seinen Fingerspitzen sind Kabel befestigt. Der Fußboden unter und die Wand hinter ihm sind kahl. Nur ein paar dünne Leitungen laufen senkrecht an der Wand entlang.

Seine krude Faszination bezieht das Bild vom Kapuzenmann jedoch gerade daraus, was nicht zu erkennen ist. Wir sehen - anders als auf vielen anderen Fotos aus Abu Ghuraib - kein Blut, keine Wunden, keinen Täter. Wir sehen keine Nackten, keine Toten. In einer Gerichtsverhandlung wäre dieses Bild als Beweis für sich allein wertlos.

Seine Symbolkraft aber ist umso größer, und zwar nicht nur, weil die theatralische Pose des Kapuzenmanns der des bekanntesten Folteropfers der Kulturgeschichte ähnelt: Jesus Christus am Kreuz. Die Stärke des Fotos - obwohl es kein Kunstwerk ist, sondern ein Dokument der Zeitgeschichte - liegt gerade darin, dass es dunkelste Phantasien anregt und somit über das konkrete Motiv hinausweist: Kino im Kopf, ob wir wollen oder nicht.

Wie bei einem subtilen Horrorfilm ergänzt jeder Betrachter das Bild unbewusst auf seine Weise. Was sehen wir hier: einen perversen Scherz - oder eine echte Hinrichtung? Wessen Gesicht steckt unter der Kapuze? Wer hat den Mann auf die Kiste gezwungen und die Kabel angeschlossen? Führen sie wirklich Strom? Was passierte danach? Und wer hat das Foto gemacht?

Jeder Betrachter ahnt, dass nur die Folterer selbst das Bild aufgenommen haben können. Der unsichtbare Fotograf ist zugleich der Täter oder zumindest ein Komplize. Die Demütigung des Opfers ist erst komplett, wenn sie im Bild dokumentiert wird. Der Schnappschuss gleicht einem K.-o.-Schlag für die Würde des Gegners - ein Verhaltensmuster, das jugendliche Gewalttäter übernommen haben, wenn sie sich an Handy-Fotos ihrer Opfer aufgeilen. Früher schrieben Sieger Geschichte, heute machen sie ein Foto mit der Digitalkamera. »Es ist derselbe Verstand, der den Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Sekunde und auf den Meter genau mit seinen Vernichtungswaffen zu treffen weiß, und der das große geschichtliche Ereignis in seinen feinsten Einzelheiten zu bewahren sich bemüht«, notierte der Schriftsteller Ernst Jünger 1930 in »Krieg und Lichtbild«.

Die Wärter hielten das, was sie mit dem Gefangenen machten, für außergewöhnlich genug, um es zu fotografieren. Aber gleichzeitig waren sie sich sicher, dass es nichts zu verbergen gab. Diese zur Schau gestellte Gewissheit ist der eigentliche Skandal, den das Foto offenlegt, schlimmer noch als die Misshandlungen selbst.

Das Foto des Kapuzenmanns von Abu Ghuraib hat die Macht, die von einem einzelnen Bild ausgehen kann, eindrucksvoll bewiesen - aber gleichzeitig auch die Ohnmacht der Bilder: Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Fotos, im November 2004, wurde die Regierung von US-Präsident George W. Bush, die für die Folter in Abu Ghuraib politisch die Verantwortung trug, im Amt bestätigt. MARTIN WOLF

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