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MUSIK / WOLKONSKIJ Gleich besser

aus DER SPIEGEL 16/1968

Der Avantgarde-Komponist Mauricio Kagel aus dem Elektronen-Gral Köln hat es schon vor Jahren gewußt. Er verhieß: »Wenn diese Nation mit ihrer reichen Musiktradition und ihren enormen musikalischen Talenten sich je wieder auf sich selbst besinnt, dann können wir alle einpacken.«

Mit dem Einpacken hat es noch Zeit, doch eines ist sicher: An hochtalentierten Musik-Revolutionären fehlt es in der Sowjet-Union, wo einst jede Zwölftonreihe als Sünde wider den sozialistischen Geist geahndet wurde, längst nicht mehr.

Zwar gelten weiterhin die konventionellen Alt-Komponisten Dmitrij Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan als Repräsentanten sowjetischer Tonkunst. Zwar werden die Werke der an Schönberg, Berg und Webern, an Pierre Boulez und Luigi Nono geschulten Neutöner von den Kulturräten des Komponistenverbands nicht gerade umjubelt -- aber aufgeführt werden sie immerhin, im Osten wie im Westen.

Die Kantate »Die Sonne der Inkas« von Edisson Denissow, 38, aus Tomsk in Sibirien beispielsweise wurde seit ihrer Leningrader Premiere von 1964 beim Darmstädter Avantgarde-Festival, in Paris, Brüssel, Kopenhagen und Zagreb in höchsten Tönen besungen.

Noch höheres Lob holte sich mittlerweile der Moskauer Andrej Michailowitsch Wolkonskij, 34, mit seiner viersätzigen Komposition »Schtschasas Klagelieder« für Sopran und Kammerorchester, die 1965 von den Leningrader Philharmonikern uraufgeführt worden war.

Wolkonskijs serielle Klage nach Folklore-Texten, von Cembalo, Vibraphon, Marimbaphon, Violine, Viola und Englischhorn expressiv untermalt, begeisterte letztes Jahr bei der vierten Internationalen Biennale für zeitgenössische Musik in Zagreb, und sie verblüffte, von Pierre Boulez dirigiert, inzwischen auch das Londoner und Berliner Publikum als »Dokument eines mutigen sowjetischen Modernismus« (Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt), als »das individuellste und interessanteste Avantgarde-Werk, das ich von einem jungen russischen Komponisten gehört habe« (Kritiker Peter Heyworth im »Observer").

Für seinen mutigen Modernismus hat Wolkonskij, Sohn eines aus Rußland emigrierten Fürsten ("Wir waren so aristokratisch, daß die Zarenfamilie der Romanows neben uns wie Neureiche wirkten"), 1933 in Genf geboren und als musikalisches Wunderkind in Paris aufgewachsen, in vergangenen Jahren schon des öfteren gebüßt.

Als die heimwehkranken Wolkonskijs 1947 in die Sowjet-Union zurückkehrten, wurde Andrej zum Studium am Moskauer Konservatorium zugelassen -- doch es blieb ein kurzer Aufenthalt. Seine Vorliebe zur Komposition mit nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen war den Lehrern ein solches Ärgernis, daß sie ihn aus der Schule wiesen.

Mit seiner Neigung zur barocken und vor-barocken Musik verdiente er sich künftig den Lebensunterhalt: Wolkonskij etablierte sich als einziger Cembalist der Sowjet-Union und gründete ein Kammerorchester mit Chor namens »Madrigal«, mit dem er mittelalterliche Choräle, weltliche Gesänge aus dem 16. Jahrhundert und Palestrina-Messen einstudierte. »Madrigal« hatte in Moskau wie auf Tournee so unerwarteten Erfolg, daß Wolkonskij jährlieb an die hundert Konzerte geben kann.

Während er mit historischen Klängen reüssierte, setzte der unbeirrte Komponist jedoch auch weiterhin seine neuen Töne. Er verfaßte unter anderem mehrere elektronische Film- und Bühnenmusiken und experimentierte an einem photoelektrischen optischen Klangsynthesator mit Namen ANS (so genannt nach dem russischen Spätromantiker Aleksandr N. Skrjabin). Wolkonskij: »Der Apparat ANS erweist sich, wenn seine Anwendung im Alltag gelingt, als revolutionäre Erfindung, würdig seiner Epoche, der Epoche des Sputniks und der Weltraumflüge.«

Er schrieb eine »Musik für zwölf Instrumente«, ein Mobile für Flöte, Violine und Cembalo mit dem Titel »Spiel zu dreien«, eine »Spiegel-Suite« nach Federico Garcia Lorca für Sopran, Orgel, Gitarre, Violine, Flöte und Schlagzeug und eine »Musica Stricta« für Klavier.

Mit eben diesem Zwölftonwerk bekam Wolkonskij abermals Ärger: Bei einer Leningrader Aufführung 1960 unterbrach die Pianistin ihr Spiel, um Gedichte des verfemten »Schiwago"Autors Boris Pasternak zu rezitieren. Von da an war fünf Jahre lang kein einziges Wolkonskij-Stück öffentlich mehr zu hören.

Noch 1963 verlangte einer seiner Kollegen in einer Sitzung des Komponistenverbands' »daß solche Genossen wie Wolkonskij aufs Podium steigen und erklären sollten, bei wem sie lieber ihr Brot essen, bei uns oder irgend jemand anders«.

Wolkonskij, inzwischen zweimal geschieden, aß weiter das Brot seiner Heimat und wurde für diese Geduld belohnt. Vor drei Jahren brachte Dirigent Igor Blaschkow mit den Leningrader Philharmonikern erstmals die nun schon fast legendären »Schtschasa-Klagen« zu Gehör, und er möchte nächsten Monat auch gern das neueste Werk Wolkonskijs uraufführen -- ein Konzert von rund 150 Partiturseiten.

Allerdings bemühen sich derzeit auch iranische Musik-Manager, die Neuerscheinung zu bekommen -- für die diesjährigen Festspiele in Schiras. Denn das Großwerk, das Wolkonskij nur beenden konnte, weil er letzten Herbst nach einem Beinbruch mehrere Wochen in Astrachan im Krankenhaus liegen mußte, hat ein persisches Thema: Es ist inspiriert von der um 1100 entstandenen Gedichtsammlung »Rubaijat« des gelehrten persischen Poeten Omar Khajjam.

Doch ob nun Wolkonskijs »Omar Khajjam« nach Schiras kommt oder nicht -- einen wichtigen Kontakt mit der internationalen Musik-Avantgarde hat der Neu-Tonsetzer Wolkonskij fürs erste: Wenn es ihm schlecht geht, dann setzt sich der Sowjet-Prinz einfach ans Telephon, um in Venedig seinen italienischen Freund und Kollegen, den Kommunisten Luigi Nono, anzurufen.

»Und jedesmal, wenn ich mit Nono telephoniert habe«, sagt Wolkonskij, »geht es mir gleich besser.«

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