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GLEICH VOR URHEBERRECHT UND GOTT

Das SPIEGEL-Institut für Projekt-Studien arbeitet an einer Enquete Ober die soziale Situation der Schriftsteller, Künstler und Komponisten in der Bundesrepublik. Mitarbeiter des Instituts haben einige Probleme, die bei der Vorbereitung der Umfrage sichtbar wurden, für den SPIEGEL skizziert.
aus DER SPIEGEL 47/1970

Die Fragestellung ist vielfach kompliziert, rasche Antwort bietet sich nicht an: Wer ist Schriftsteller? Welche Industrie bedient ihn? Welcher Platz steht ihm in der Gesellschaft zu?

Im Schriftstellerverband (wie Im öffentlichen Bewußtsein) wird »Autor« oft gleichgesetzt dem Verfasser belletristischer Bücher. Böll oder Graß, die Heimatlyrikerin oder der alte vergessene Dramatiker sind die paraten Beispiele. Tatsächlich nehmen aber bei einer Buchproduktion von jährlich (1969) 35 000 Titeln in der Bundesrepublik belletristische Autoren nur knapp 20 Prozent ein. Der Anteil schöngeistiger Schriftsteller an der Gesamtheit aller Autoren im Lande wird auf 10 Prozent geschätzt.

Die Zahlen sind unzuverlässig: Bei 60 Millionen Einwohnern sind im bundesdeutschen Schriftstellerverband 3000 Mitglieder organisiert, im Journalisten-Verband 10 000. Schwedens im Dachverband »Flyco« organisierte diverse Verbände zählen 1380 Mitglieder zuzüglich 200 Mitglieder des Dramatikerverbandes (bei 8 Millionen Einwohnern). Dänemarks »Forfatterforening« 500 (4,9 Millionen Einwohner), und Norwegens Verband gibt 304 Mitglieder an (3,8 Millionen Einwohner). In allen skandinavischen Ländern blieb wie in der Bundesrepublik undefiniert: Wer ist Schriftsteller?

Als Friedrich Engels sein Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« schrieb, war die Definition dessen, was Proletariat ist, bereits vorausgegangen. Bevor eine Sozialenquete über die Lage der Schriftsteller beginnt, gar soziale Versorgungsmaßnahmen initiiert werden, muß das Objekt der Untersuchung definiert sein -- nicht als Ergebnis der Studie, sondern als Voraussetzung.

Ist »Autor« der Verfasser von Landserheften ebenso wie Helmut Heißenbüttel? Ist Rudolf Augstein, Autor eines Buches über »Preußens Friedrich«, Unternehmer oder Schriftsteller? Das Urheberrecht ist wie Gott: Vor ihm sind alle gleich. »Das Kochbuch für die Frau vom dicken Mann« ist dasselbe wie »Der Mann ohne Eigenschaften«.

Zu fragen Ist also nicht nach dem Selbstverständnis, schon gar nicht nach literarischen Qualifikationen, sondern zu fragen wird sein nach Produktionsverhältnissen

Die aber sind bisher nicht analysiert, kaum dargestellt. Vergleiche mit dem Ausland führen nicht weit, weil die sozialen wie Wirtschaftsstrukturen kaum vergleichbar sind: Daß es in der Bundesrepublik fast 2500 Verlage gibt gegenüber 82 in Schweden, sagt keineswegs, daß hierzulande weniger Verlagskonzentration herrscht -- 29,2 Prozent dieser Verlage publizieren einen Titel pro Jahr (13,3 Prozent zwei Titel, 19,5 Prozent drei bis fünf Titel und erst 2,7 Prozent über 100 Titel).

Der hohen Ausleihziffer Schwedens -- 58 Millionen Exemplare im Jahre 1969 gegenüber 90 Millionen Exemplaren in der Bundesrepublik -- entsprechen nämlich sehr geringe Verkaufszahlen: fünf Millionen Exemplare. Der Anteil belletristischer Bücher am Gesamtumsatz ist halb so hoch wie in der Bundesrepublik -- das Honorar, 16 2/3 Prozent vom Broschurpreis, fast doppelt so hoch. In Schweden sind schlichtweg die Bücher teurer, das billigste Taschenbuch kostet sieben Mark.

Die westdeutschen Schriftsteller, nach Polizisten, Bauern und Oberschülern verhältnismäßig spät zum »Ende der Bescheidenheit« erwacht, fordern jetzt eine Umverteilung der Gewinne ihrer Verbreitungsindustrie -- 2,7 Milliarden Mark Jahresumsatz des bundesdeutschen Verlagsbuchhandels, vom Sortiment im wirtschaftlichen Naturschutzpark des halben Mehrwertsteuersatzes und des festen Ladenpreises mitgetragen, stehen zur Debatte (die Farbenfabriken Bayer AG machen jährlich 9,2 Milliarden Mark Umsatz).

Niedrigere Honorare als in Skandinavien, ein verlegerischer Nebenrechtsanteil (im Durchschnitt 30 bis 50 Prozent), der weder in den USA noch in England noch in einem der skandinavischen Länder üblich ist, und Verträge des ZDF, die durch eine extensive Rechtsübertragung zum Schaden der Autoren aufgesetzt wurden -- dies sind einige der Bastionen, auf die zum Sturm geblasen wird.

Der sinnvolle Einsatz sowohl der finanziellen Mittel -- etwa aus den Bibliotheks- und Lesebuchtantiemen -- als auch der publizistisch-organisatorischen Möglichkeiten wird erst beginnen können, wenn eigene Modelle entwickelt wurden.

Ein soeben fertiggestelltes Papier des Sekretariats der »Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland« gibt »Ausgaben für Kunst- und Kulturpflege« von insgesamt 1,9 Milliarden Mark an (etwa 4 Prozent dieses Etats entfallen auf individuelle Förderung von Künstlern durch Preise, Stipendien etc., der »Rest« von 96 Prozent auf institutionelle Subventionen, also Theater, Museen und ähnliches).

Eine Studie wird also nicht nur Quantifizierungen erarbeiten müssen. Die verschiedenen Sozialstrukturen aufzuschlüsseln, einen Bericht über die wirtschaftliche Lage freier Schriftsteller herzustellen -- dazu bedarf es nicht nur genauerer wissenschaftlicher Begriffsbestimmung: Nötig sind auch Recherchen und Untersuchungen, die bislang in der Bundesrepublik nicht vorliegen.

Bislang existiert keine Übersicht individueller Förderungsmaßnahmen in der Bundesrepublik -- schon gar nicht eine Analyse der kompliziert verflochtenen Verlagsmaschinerien, in denen kein Autor sich auskennt, bei denen es weder Musterverträge noch einheitliche Usancen in Honorar-, Vorschuß-, Nebenrechts- und Abrechnungsmodalitäten gibt.

Erst wenn diese erste Phase -- von Bertelsmanns Altersversorgung bis zum Schriftstellersozialfonds -- in eine nächste, gesellschaftspolitisch orientierte übergeleitet wird, können Autoren wohl ihre eigene Rolle in der Arbeitswelt neu definieren, den Begriff vom geistigen (wie materiellen) Eigentum und vom Urheber neu festlegen.

Der Kampf um die Änderung einer Steuergesetzgebung, die den Schriftsteller bislang als Unternehmer einstuft, erste Umfrageerhebungen wie Martin Doehlemanns Buch »Junge Schriftsteller: Wegbereiter einer antiautoritären Gesellschaft?« können noch keinen anderen Bewußtseinsstand widerspiegeln als den vom Autor als individualisierten (gelegentlich zum Team bereiten) kreativen Außenseiter.

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