LITERATUR / MATURIN Glosendes Auge
Hochgewachsen, finster und bleich, mit »glosendem Blick« und »entsetzlichem Gelächter«, so geisterte er. »spottend der Zeit und des Raumes«. 150 Jahre lang über Land und Meer durch Gewitternächte und stürmische Herbstabende, durch Folterkammern, unterirdische Klausen, zerfallene Kapellen und moderige Grüfte.
Und es gingen weitere 150 Jahre dahin, bis »Melmoth der Wanderer in seiner ganzen infernalischen Pracht nach Deutschland kam: Der Schauerroman des anglikanischen Pfarrers Charles Robert Maturin aus Dublin. 1820 publiziert, erscheint in Hansers »Bibliotheca Dracula« jetzt erstmals in einer vollständigen (und vorzüglichen) deutschen Übersetzung*. Was immer an literarischem Horror noch serviert werden mag -- ein köstlicheres Teufelselixier ist nicht mehr zu erwarten.
Lord Byron und Sir Walter Scott haben das Buch ihres irischen Freundes hochgeschätzt. »Mozarts 'Don Giovanni', Goethes 'Faust', Byrons 'Manfred', Maturins 'Melmoth' -- das sind die großen Gemälde, entworfen von den größten Genies Europas«, so rühmte Balzac und widmete dem »Melmoth« eine realistische Fortsetzung. Der junge Victor Hugo ließ sich von ihm zum Grusel-Epos »Han d'Islande« inspirieren; Baudelaire sah in »der großen satanischen Schöpfung« ein »bewunderungswürdiges Sinnbild«.
Sie alle schätzten in ihm ein spätes Meisterwerk jener Schreckensliteratur, die der Engländer Horace Walpole mit seinem »Schloß von Otranto« ein halbes Jahrhundert früher populär gemacht hatte; sie bewunderten einen
* Charles Robert Maturin: »Melmoth der Wanderer«. Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics. Carl Hanser Verlag, München; 1008 Seiten; 24,80 Mark.
»gotischen Roman«, der die phantastischen Motive, Themen, Typen, Szenerien und Stimmungen seines Genres aufs kunstvollste summiert.
Denn Maturin, ein sehr belesener Literat, hat sich bei seinen Kollegen vielerlei herausgenommen und es weiterverarbeitet. Es ist die düstere Topographie der Romane Ann Radcliffes, durch die der verfluchte Melmoth wandert, die phrenetische Leidenschaft des »Mönches« von Matthew Gregory Lewis (1796), die ihn vorantreibt. Mehr noch: Es sind die Spuren des Ewigen Juden und des Doktor Faust, denen er folgt.
Auch Melmoth nämlich hat sich einst dem Blendwerk des Satans verschrieben und seine Seele für übermenschliches Wissen und ewige Jugend verkauft. Nun pilgert er, halb Faust, halb Mephisto« mit »eisigem Sarkasmus« generationenlang durch die ganze weite Welt und sucht nach einem Opfer, das an seiner Statt in den Teufelspakt eintritt; nur so kann er der ewigen Verdammnis entrinnen.
Er ist der Mann, der durch die Wand gehen kann; er ist »innerhalb so kurzer Frist an so verschiedenen Orten des Erdballs gesichtet worden, daß bloße Menschenkräfte dies nimmermehr bewirkt haben könnten«.
Aber wo immer er seine Auserwählten in Drangsal, Elend und Versuchung führt, den »grauenhaften Einflüsterungen« des Wanderers bleibt der Triumph versagt. Der Engländer Stanton, der im Irrenhaus schmachtet, widersteht ihnen ebenso wie der junge spanische Adelige Alonzo di Moncada, der ein Schicksalsgenosse der »Nonne« Denis Diderots -- gegen seinen Willen, gequält von unmenschlichen Patres, im Kloster leidet.
Selbst die Spanierin Isidora, eine Zwillingsschwester Gretchens, die sich dem Fremden in einer gespenstischen Nacht vermählt -- und »ein großmütiges, ein menschliches Fühlen durchpulste plötzlich seine Adern« --, kann ihr Seelenheil retten. Melmoth tötet im Duell ihren Bruder und meuchelt ihr das Kind, doch bevor sie im Kerker der Heiligen Inquisition an gebrochenem Herzen stirbt, ist sie absolviert.
Melmoth, der stolze Satansbraten, erfüllt von der »großen Sünde der gefallenen Engel«, von »Hochmut und Vergöttlichung des Intellekts«, muß wieder einmal unerlöst weiterwandern, bis endlich »die festgesetzte Marke der hundertfünfzig Jahre« erreicht ist, bis ihm die »infernalisch glosenden Augen« erlöschen und der Teufel ihn holt zur Höllenfahrt.
»Melmoth arbeitet unermüdlich, um in drei Oktavbänden die Zerstörung von zwei oder drei Seelen zu vollenden, wo jeder gewöhnliche Teufel ein- oder zweitausend geschafft hätte«, höhnte Edgar Allan Poe« der seine Figuren sehr viel schneller ins Verderben trieb.
Aber Maturins schlimme Geschicke schleichen in ihren pathetischen Rhythmen nun einmal langsam voran. Sein bizarr ineinandergeschachtelter Roman, gespeist vom Bildungsgut der Bibliotheken, gefüllt mit Fußnoten, Zitaten, Anspielungen und Variationen zu vorgegebenen Themen, mit schroffer Polemik gegen Katholiken und Kolonialismus, zeigte dem bürgerlichen Publikum von 1820 nicht nur singuläre Qual, sondern ein schwarzes Universum, durch das, als der »einzig verständlichen Sprache des Irrsinns und der Verzweiflung« (Baudelaire), ein Lachen hallt.
Er zeigte die Welt als Tollhaus und Folterkammer. Seine Schrecknisse, erläutert Dieter Sturm, Theaterwissenschaftler und Experte des Schauerromans, im Nachwort zum Hanser"Melmoth«, seien »ein kosmologisches Verhängnis, angelegt in den tiefsten Trieben, dem psychologischen Schicksal der Menschheit, als Trauer und melancholische Ausweglosigkeit fühlbar, um plötzlich als natürliche und gesellschaftliche Katastrophe, als höllisches Blendwerk unwiderstehlich hervorzubrechen«,
Pfarrer Maturin aus Dublin, Autor von sechs Romanen und drei Dramen, ein freisinniger, exzentrischer Mann ohne Geld, der gern tanzte und sang, seine Kirchenoberen ärgerte und sich eine Oblate auf die Stirn klebte, wenn er beim Schreiben nicht gestört werden wollte, hat es einfacher gesagt.
»Wenn ich irgendein Talent besitze«, sagte er, »so ist es das, Düsteres noch zu verdunkeln und Trauriges noch schwermütiger zu machen, das Leben in Extremen zu malen und die Kämpfe der Leidenschaft zu schildern, in denen die Seele an der Grenze des Unerlaubten und Unheiligen zittert.«
Maturin lebte von 1780 bis 1824. Sohn William hat nach seinem Tod sämtliche hinterlassenen Manuskripte vernichtet. Ihm fehlte ganz offensichtlich der schwarze Humor des Vaters, der im »Melmoth« einen Irrenhäusler so zu Wort kommen läßt:
»Oh that my lungs could bleat like buttered pease« -- deutsch: »Daß meine Lungen röhreten gleich Erbsen in der Butter.«