FORSCHUNG / FAHRRAD Glück im Sattel
Behende schwang sich der britische Wissenschaftler David E. H. Jones in den Sattel seines Fahrrads und fuhr los. Nach wenigen Metern schlingernder Fahrt stürzten Rad und Fahrer in den Staub -- zum Entzücken des Forschers, der lange auf dieses Ziel hingearbeitet hatte.
Mehrmals wiederholte Jones den halsbrecherischen Selbstversuch, ehe er sich nach einer Serie von Stürzen des wissenschaftlichen Erfolgs sicher dünkte. Nach eigenem Bekunden ist ihm nun, jedenfalls näherungsweise, eine Konstruktion gelungen, von der sich Techniker nicht hätten träumen lassen -- Jenes baute ein Fahrrad, das nicht fährt.
Zweckfreie Neugier des Grundlagenforschers hat den Engländer, der als Chemiker bei der britischen Firma Imperial Chemical Industrials beschäftigt ist, zu seiner Konstruktionsarbeit veranlaßt: Die Frage, warum Fahrräder sich relativ leicht in der Balance halten lassen und warum beispielsweise ein herrenloses Zweirad, wenn es mit kräftigem Stoß gestartet wird, noch eine ganze Weile ohne umzukippen in der Spur bleibt, war bislang wissenschaftlich noch nicht untersucht worden.
Vergebens suchte der Chemiker in der technischen Fachliteratur nach einer plausibel klingenden Erklärung für solch stabiles Fahrverhalten. Was er gefunden habe, so bemängelte Jones, der jetzt in dem renommierten US-Fachblatt »Physics Today« über seine Arbeiten berichtete, sei nur »skizzenhaft und ohne experimentellen Nachweis« dargestellt.
Eine Lösung des Problems -gleichsam in Umkehrschluß -- erhoffte sich der Wissenschaftler von einer Versuchsreihe mit Zweirädern, deren Fahreigenschaften systematisch, bis zur völligen Unfahrbarkeit, verschlechtert wurden. Jones konzipierte nacheinander vier Anti-Fahrräder.
Bereits bei der ersten Konstruktion jedoch, dem »Unridable Bicycle URB I«, wurde offenbar, daß die Aufgabe beinahe unlösbar ist. Zuerst vermutete Jones, daß Vorder- und Hinterräder als eine Art Kreiselsystem zusammenwirkten und daß auf diese Weise -bei ausreichender Beschleunigung -- der Einfluß äußerer Kräfte, wie zum Beispiel Seitenwind, ausgeschaltet würde.
Ausgehend von dieser Theorie, schuf Jenes ein fremdartig wirkendes Blech-Monster, .über dessen Vorderrad ein drittes Rad montiert war, das in einem Winkel von 90 Grad zum Vorderrad rotierte. Dadurch, so hoffte Jenes, würden die Kreisel-Kräfte aufgehoben und das Fahrrad schon beim ersten Anschub umstürzen. Aber die Hoffnung trog -- das Dreirad-Rad konnte sogar Kurven drehen.
Noch seltsamer mutete das Modell URB II an. Der Forscher hatte dazu das Vorderrad abgeschraubt und durch eine Lauf rolle von 2,5 Zentimeter Durchmesser ersetzt, wie sie zum Fortbewegen schwerer Möbel verwendet wird. Doch auch dieses exotische Vehikel war nicht zum Umsturz zu bewegen. »Zwar war es schon schwieriger zu steuern, aber immerhin -- es lief«, kommentierte Jenes diesen Versuch. Einziger Nachteil: Das Rad »konnte Straßenhindernisse, die höher waren als 1,25 Zentimeter, nicht überwinden«; außerdem wurde die Rolle »bei höherer Fahrgeschwindigkeit rotglühend«.
Kollegen des ausdauernden Tüftlers' die er um Rat gefragt hatte, ersannen neue Theorien, von denen eine besagte, daß ein Fahrrad nur durch die Dicke der Reifen -- nach dem Prinzip der Dampfwalze -- stabil gehalten werde. Mit dieser Annahme mochte sich Jenes jedoch nicht anfreunden.
Statt dessen umriß er am Zeichenbrett einen neuen Steuermechanismus. Aus den inzwischen gesammelten Erfahrungen hatte der Forscher den Schluß gezogen, daß der Lauf des Fahrrads vor allem von der Gabel beeinflußt wird, an der das Vorderrad mit seiner Nabe aufgehängt ist. Würden demnach Radgabel und -lenker umgedreht, das Vorderrad also um 180 Grad nach innen eingeschlagen, müßte die gewünschte Instabilität erreicht werden, hoffte der experimentierfreudige Rad-Experte.
So entstand Typ URB 111, der in der Tat »sehr schwierig« (Jenes) zu manövrieren war, jedoch »nicht so knifflig, wie ich es erwartet hatte«. Vor allem das Verhalten der Maschine bei freihändiger Fahrt bot Anlaß zur Enttäuschung, Erst nach »etlichen Metern« ging der Apparat auf Zickzack-Kurs. Gesamtwertung: schwer zu steuern, aber fahrbar.
Endlich kam der Amateur-Radfahrer zu dem Schluß, daß dem Problem nur mit professionellen Mitteln zu begegnen sei. Jenes programmierte einen Computer und fütterte sämtliche Daten wie etwa Gewicht, Geschwindigkeit und Neigungswinkel ein. »Ich konnte nun«, so erläutert Jenes, »verrückte Räder aller Art herstellen.« Das Resultat der Computer-Rechnung führte schließlich zur Konstruktion des URB IV, einem auf den ersten Blick herkömmlichen Fahrrad, dessen Vorderradnabe allerdings -- mittels Verlängerungsstreben an der Gabel -- zehn Zentimeter weit vor die ursprüngliche Position gerückt wurde,
Mit dieser Anordnung hatte Jenes offensichtlich die richtige Spur gefunden -- das Rad blieb nicht mehr in der Spur.,, Zu meiner Freude«, berichtete Jenes, »fiel es, einmal angeschoben, sofort um.«
Als der Forscher aber selbst zu Fahrversuchen ansetzte, gewann das Fahrrad wieder zeitweilig an Stabilität und ging erst nach längerem Manövrieren endgültig zu Boden. Jenes jedoch schwächt dieses Manko mit dem Hinweis ab, daß ihm das Umfallen vielleicht nur deshalb schwerfalle, weil er während der Testserien offenbar das Können eines Kunstradfahrers erworben habe.
Über einen möglichen Verwendungszweck von Fahrrädern, die kaum oder gar nicht fahren, macht sich der Wissenschaftler, der weder sich noch seine Maschinen photographieren läßt, kaum Illusionen. »Ich will diese Erfindung dem Publikum nicht als neue technische Errungenschaft aufschwatzen«, verkündete er.
Einzig der Rad-Typ III (einschlagendes Vorderrad) mit seinen überragenden Freihand- und Geradeauslaufeigenschaften könnte möglicherweise doch Interessenten finden: ungeschickte Radfahrer, denen es an Gleichgewichtssinn mangelt und die nicht auf ein bestimmtes Reiseziel festgelegt sind. Sie, so meint Jenes, könnten im Sattel des Modells URB III »glücklich werden«.