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Literatur »Gnädig im Jenseits«

aus DER SPIEGEL 41/1993

Rühmkorf, 63, erhält am Samstag dieser Woche den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt veröffentlichte er den Sammelband »Laß leuchten!« (Rowohlt Taschenbuch Verlag).

SPIEGEL: Herr Rühmkorf, nach fast 40 Dichter-Jahren ist nun der Büchner-Preis über Sie gekommen. Zu spät?

Rühmkorf: Ich bin eigentlich ganz fidel, daß mich das erst auf die alten Tage erreicht. In der Jugend gibt es so viele Vergnügungen, aber als Antiquität noch mal richtig Auferstehung feiern?! Dabei gibt es wahrlich Größere, die es viel schwerer gehabt haben. An Büchner, Gott bewahre, mess' ich mich natürlich nicht, aber andere Preisträger könnten durchaus eine Meßlatte sein.

SPIEGEL: Kritiker würdigen Sie notorisch als »verwegensten, virtuosesten Wortkünstler«. Fühlen Sie sich richtig eingestuft?

Rühmkorf: Positive Kritiken kommen über einen wie die Sterntaler der Fortuna. Die Menschheit braucht zur schnellen Verständigung ja solche flachen Schubladen, und so hat man mich zeitweise einen »politischen Dichter« genannt. Ich selbst hab' öfter mal eingeworfen: Nein, ich bin zwar ein politischer Prosaist, aber eigentlich ein erotischer Dichter. Bis Enzensberger mich eines Tages einen »metaphysischen Dichter« genannt hat. Das gefiel mir nicht schlecht. Man kann schon von Glück sagen, wenn man auf diesen schnellen Abreißkalendern überhaupt noch geführt wird.

SPIEGEL: Ihren politischen Überzeugungen sind Sie treu geblieben - unbeugsam links auf ewig?

Rühmkorf: Die politischen Essentials, denen ich mein Leben lang gefolgt bin, hießen immer Freiheit und Gleichheit. Das habe ich jahrzehntelang in beide Deutschländer hinausposaunt: Dort muß mehr Freiheit her, hier ist Mangel an Egalität. Ich sehe nicht den geringsten Grund, meine Überzeugungen nach dem Zeitgeist, büchnerisch gesagt: nach den Fatalitäten der Geschichte zu strecken.

SPIEGEL: Sie haben, gemeinsam mit Graß, zum Bonner Asylkompromiß einen wütenden Protest-Brief an den Bundespräsidenten gerichtet. Sind Sie auch bei dieser Meinung geblieben?

Rühmkorf: Es war eine moralistische Affekthandlung, jedenfalls bei mir. Mölln war zur Mordbrenner-Stadt geworden. Solingen, ein weltbekanntes Symbol für deutsche Wertarbeit, wurde ein Brandfanal für unsere Schande. In der Asylfrage neige ich, bei nüchterner Betrachtung, doch zu Differenzierungen. Es gibt sehr viele Hilfsbedürftige, denen wir beistehen müssen, aber auch Mafiosi - die müssen rausgehalten werden.

SPIEGEL: Haben Sie Schwierigkeiten, ein Deutscher zu sein?

Rühmkorf: Früher hatte ich damit nicht die geringsten Probleme. Ich war ein linker deutscher Patriot, von denen es zu Apo-Zeiten gar nicht so furchtbar viele gab. Auch heute möchte ich mit Enzensberger meinen, deutsch sein heißt: vor der eigenen Haustür kehren.

SPIEGEL: Das hatten sich die Rebellen von 1968 noch ganz anders vorgestellt.

Rühmkorf: Ich bin ihnen damals mit glühendem Herzen und wehenden Fahnen entgegengelaufen, schon weil ich ihnen mit vielen politischen Aufsätzen vorausgeeilt war. Dann hat uns der antiautoritäre Zugwind ziemlich erbarmungslos von sämtlichen Bühnen und aus den Seminaren gefegt. Ich habe mich damals in mein lyrisches Gehäuse zurückgezogen. Aber die Verletzungen suppten natürlich durch alle Fugen.

SPIEGEL: Diese wunde Seele müßte doch Verständnis haben für den Zornesausbruch des Dramatikers Botho Strauß, der jetzt so vehement und umstritten gegen den Kulturverfall polemisiert.

Rühmkorf: Also, da muß ich mir erst mal einen Grappa einschenken. Nein, Botho Strauß ist für mich nie eine brauchbare Bezugsperson gewesen. Vermutlich leiden wir sogar alle an den gleichen häßlichen Tatbeständen, aber sein ressentimales Gemaule ist für mich kein ernsthafter Gesellungsgrund. Je schlimmer es auf der Welt aussieht, um so banaler finde ich das Gerede von der Unverbesserlichkeit und Bösartigkeit des Menschen. Wir haben alle bessere Zeiten gesehen und kennen auch nettere Länder. Da sollte man hingucken, statt sich in archaische Gemeinschaften zurückzusehnen, in denen es noch kein Fernsehen gab.

SPIEGEL: Für Apokalyptiker wie Strauß klingt das ziemlich naiv.

Rühmkorf: Nein, nicht der schon wieder! Was wir brauchen, ist Aufklärung und nochmals Aufklärung. Dieser Hexenhammer von Strauß trägt doch nur zu seiner Verdummbeutelung bei - auf höchster Geistesebene. Schlimmer noch: Wenn wir solch verrenkte Prosa für erleuchtet halten, verlieren wir am Ende noch den Nerv für das, was wirklich erhebend oder erbaulich an der schönen Dichtkunst ist.

SPIEGEL: Pessimismus liegt Ihnen fern?

Rühmkorf: Ja, obwohl ich doch in meinem recht langen Leben auf eine stattliche Scheiterstrecke zurückblicke. Ich habe viele Hoffnungen meiner Generation geteilt - in der Nachkriegszeit, in der Apo, in der neuen Wende-Zeit. Aber alles ist uns wie Schaum vor der Nase zergangen.

SPIEGEL: Welche Aufgabe bleibt da noch dem Poeten?

Rühmkorf: Ich bin Artist, Aufhebungskünstler und auf der Welt, um die ganzen zerscherbten, zertrümmerten Utopien im Gedicht noch mal neu zu fassen. Ich gehe immer von der Fragwürdigkeit dieser Welt aus, doch erst wenn die Ratio mit ihrem Latein am Ende ist, muß das Gedicht die fürchterlichen Fragezeichen in Ausrufezeichen umschmieden: »Bleib erschütterbar und widersteh!« So was hab' ich mir bei meinen Durchhängern immer zurufen müssen.

SPIEGEL: Hat sich in dieser turbulenten, mediengesättigten Welt auch die Wahrnehmung von Literatur verändert?

Rühmkorf: Ganz bestimmt. Als 1959 mein Gedichtband »Irdisches Vergnügen in g« herauskam, dachte ich noch, daß alle Welt meine frohe Botschaft versteht. Wir Schriftsteller sahen die Welt damals als ein riesiges literaturwissenschaftliches Seminar, in dem man sich gebildete Anspielungen zuruft, und das Publikum nickt und freut sich. Das war leider ein schöner Irrtum. Seit das Fernsehen die Köpfe immer mehr verdunkelt, habe ich meine Instrumente auf ganz andere Töne runtergestimmt.

SPIEGEL: Sie haben nie versucht, sich in anderen Künsten verständlich zu machen?

Rühmkorf: Versucht schon, aber eigentlich ohne Fortüne. Ich habe ein bißchen Film und Fernsehen gemacht, bin aber kein Sekundentexter. Sechs schöne Jahre habe ich mit Theaterarbeit verspielt. Meine Geliebte ist die Sprache, der ich ergeben diene, und sie hat sich mir nie ernsthaft verweigert.

SPIEGEL: Stößt denn die Poesie, Ihre Lyrik, beim Publikum noch auf Gegenliebe?

Rühmkorf: Ach, nur wenig. Wir sind eine aussterbende Gattung und hausen in einer winzigen ökologischen Nische. Schauen Sie sich mal die Schwesterkünste an mit ihren riesigen Resonanzräumen. Die Musik, zum Beispiel, kann überall anknüpfen, alles anklingen lassen - Bach, Buxtehude, Mahler. Aber bei Klopstock ist nur noch Ohropax angesagt. Man darf es wohl alles nicht so tragisch nehmen, Tragik ist eben nur ein Verbrämungswort für Larmoyanz. Bei Brecht habe ich gelernt, daß man manchmal ziemlich tief runtersteigen muß, um weiterzukommen.

SPIEGEL: Sie schreiben jetzt Tagebücher? Wie tief muß man da ins Leben eintauchen?

Rühmkorf: Man muß zuerst die scharfe Linse der Selbstbeobachtung einlegen. Ein Tagebuch zehrt von seinem Wahrheitsanspruch, seine Glaubwürdigkeit heißt Unerbittlichkeit. Ich mag keine Tagebücher, in denen nur die Mitwelt den Schaden hat und für den Spott nicht zu sorgen braucht. Ein Tagebuch verschafft dem Verfasser ein Gefühl von Omnipotenz. Wer Tagebuch schreibt, hat selbst bei quälendem Party-Geschwätz das letzte Wort. Aber natürlich kann man zu Lebzeiten, auch mit Rücksicht auf seine Lieben und Liebsten, nicht alles unzensiert veröffentlichen.

SPIEGEL: Werden Sie die geschwärzten Passagen nachreichen?

Rühmkorf: Sicher, nach meiner Verewigung. Ich stell' mir vor, wie wir Tagebuch-Schreiber eines nicht mehr so fernen Tages gemeinsam im Himmel sitzen, ganz mild und gnädig vor lauter Jenseitigkeit, und uns vor Lachen ausschütten, wenn da unten diese Verschlußsachen hochgehen. Y

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