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LITERATUR / COMPUTER-LYRIK Goethe gelocht

aus DER SPIEGEL 46/1967

»Sanfte Blüten zucken eilend heiße Träume«, dichtet der Dichter. Oder: »Affen kreischen heimlich Meineide.« Oder: »Das Laub ist aufgeflimmert Die tote Seele wimmert ...«

Der Dichter ist ein Jahr alt, stammt aus Bad Hersfeld und heißt Zuse Z 23. Zum Dichten brachten ihn die Ingenieure Manfred Krause, 32, aus Düsseldorf und Götz Friedemann Schaudt, 29, aus Aachen: Sie setzten Zuse Z 23 unter Strom.

Zuse Z 23, 1966 in der Zuse KG, Bad Hersfeld, hergestellt, steht im Münchner Oskar-von-Miller-Polytechnikum: ein Computer, der vorwiegend zur Lösung technisch-wissenschaftlicher Probleme eingesetzt wird, jedoch, zweckentfremdet programmiert, auf Lochstreifen auch Verse im Rhythmus des »Abendliedes« von Matthias Claudius ("Der Mond ist aufgegangen) oder von Goethes »Faust« -Prolog ("Die Sonne tönt nach alter Weise) tickern kann (siehe Kasten).

»Dennoch ist hier keine Blasphemie beabsichtigt«, versichern die Ingenieure Krause und Schaudt, die 33 Zuse-Gedichte jetzt im Düsseldorfer Droste-Verlag herausgegeben haben*. Sie wollten weniger die Ehrfurcht vor abendländischem Kulturgut als den Gegen-Mythos, die Jahrhundert-Angst vor denkenden Maschinen, attackieren. Nichts, so beruhigen Krause/Schaudt, bringe Zuse Z 23 hervor, was ihm nicht zuerst eingegeben worden wäre.

Die Ingenieure fütterten das Elektronenhirn mit einigen hundert Wörtern, die vorwiegend Gedichten von Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Claudius und Rabindranath Tagore sowie technischen, medizinischen und juristischen Fachtexten entnommen wurden. Außerdem programmierten sie den kybernetischen Künstler mit etlichen Vers- und Satzformen.

So konnte Zuse Z 23 in festem Versmaß nur deshalb dichten, weil alle ihm eingeflößten Vokabeln (mit Ausnahme einsilbiger Konjunktionen wie »und« oder »ob") sich aus betonten langen und darauffolgenden unbetonten kurzen Silben (Trochäen) zusammensetzen. Und nur deshalb vermochte der Automat zu reimen, weil alle Heimwörter mit Hinweisen auf das zweite Reimwort versehen waren.

Krause/Schaudt: Das Elektronengehirn denke »lediglich in den ihm

* »Computer-Lyrik. Programmiert und herausgegeben von Manfred Krause und Götz F. Schaudt. Droste-Verlag, Düsseldorf; 48 Seiten; 5,80 Mark.

vom Menschen vorgeschriebenen Bahnen«.

Daß die lyrischen Zuse-Produkte trotzdem so geheuer nicht sind, liegt an einer Vorrichtung, mit der die Wortfolge variiert werden kann: dem sogenannten Zufallsgenerator. Krause! Schaudt: »Dieser wählt zunächst aus den eingespeicherten Versregeln, dann aus den Wortfolgen zufällig eine heraus.«

Viele Zuse-Gedichte erinnern an dadaistische, surrealistische oder absurdistische Dichtung. Die Kombination von einander fremden Wörtern sollte nach surrealistischer Theorie neue Assoziationsmöglichkeiten eröffnen, andererseits die als absurd-unzusammenhängend empfundene moderne Wirklichkeit spiegeln: Der Protest-Sinn solcher Poesie lag in der Herstellung von Sinnlosigkeit.

Die Frage nach dem Sinn der Zuse-Poesie aber, so betonen die Herausgeber, »kann nicht, sondern muß dispensiert werden; denn den Wunsch nach einer bestimmten Aussage hat eine Datenverarbeitungsanlage nicht ... Einen Sinngehalt kann ein solches Gedicht von vornherein nicht haben, es muß von der verstehenden Phantasie mit Sinn erfüllt werden.

Menschliche Zuse-Kollegen und Freunde der Human-Dichtung dürfen aufatmen. Dennoch sind die Zuse-Programmierer auf Anfeindungen gefaßt.

Die Benutzung eines Computers zur Lyrik-Herstellung, so glauben Krause! Schaudt, werde gewiß »von den meisten Dichtern als Mißbrauch der Lyrik empfunden werden« -- doch auch »von nicht wenigen Technikern als Mißbrauch des Computers«.

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