MUSIK Goldjungs im Höhenrausch
Es war kurz nach Mitternacht, als ein wenig Wasser vom Himmel über München fiel, eine kleine Erfrischung an einem heißen Abend - hochwillkommen, so dass die Menschen nicht einmal die Dächer ihrer Cabrios schlossen. Sollte das Leder ruhig ein wenig leiden.
Draußen vor der Tür des Lokals Lenbach, das der britische Designstar Sir Terence Conran nach den sieben biblischen Todsünden Neid, Gier, Lust, Zorn, Eitelkeit, Völlerei und Trägheit gestaltet hat, stand ein schwarzer Mann mit der Statur eines Geldschranks. »Es ist einfach«, sagte er in höflichem Englisch. »Entweder Sie haben eine persönliche Einladung von Mick, oder Sie kommen hier nicht rein.«
Drinnen hielt sein Chef Hof. Nichts Großartiges, nur ein kleines Vergnügen, vielleicht 60 Gäste, die durch die 300 Leute fassende Halle geisterten. »Vor allem Models und hübsche Girls«, hatten die Organisatoren geraunt, sollten es sein, wovon sich Jenny Elvers, verzweifelt ausgeschnitten bis zum Bauchnabel, und Gloria von Thurn und Taxis offenbar angesprochen fühlten. Ein paar Stehtische wurden beiseite gerückt, Jagger widmete sich seiner zweitliebsten Beschäftigung, dem Tanzen. Gegen vier klopfte sein Bodyguard auf die Uhr. Bettzeit für Jagger. Zurück blieb eine Nacht, von der er und ein schwarzhaariges Model sich ein wenig mehr versprochen hatten.
Vom Rest der Band keine Spur. Wahrscheinlich hatten es sich Keith Richards und Co. vor ihren Minibars gemütlich gemacht. 25 Suiten im Hotel Vier Jahreszeiten liefen auf die Kreditkarten der Stones. Der dort lagernde Vorrat an Alkohol sollte ausreichen, um ohne größere Probleme und ohne Models durch die Nacht zu kommen.
Ein paar Abende zuvor hatten die Rolling Stones eine Europa-Tournee gestartet, die sie bis Mitte September durch Clubs, Hallen und Stadien des alten Kontinents führen soll - und sie hatten bei diesem Start all jene Kritiker alt aussehen lassen, die ihnen nun seit bald 30 Jahren mit den ewig gleichen Vorwürfen das Leben schwer zu machen versuchen: Wieder hieß es, sie seien zu alt und, natürlich, ganz puritanischer Irrsinn made in Deutschland, zu reich für ihren Job.
Einen besonderen Exzess an merkwürdig riechender Halfzware-Bitterkeit leistete sich die »Süddeutsche Zeitung«, wo man es unter dem Titel »Unsere Leichen leben noch« originell fand, den Stones vorzuwerfen, dass sie nicht schon vor 30 Jahren an ihren Drogen krepiert seien. Fehlt noch ein Schreibtisch-Flagellant, welcher den Musikern ihren Hang zu schönen Frauen vorhält - frei nach dem Motto: »It's only Rock'n'Roll, but we hate it!«
Aber der Reihe nach. Tatsächlich feierten die Rolling Stones voriges Jahr ihr 40. Bühnenjubiläum; tatsächlich bringen es die Herren Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood zusammengerechnet auf das biblische Alter von 236 Jahren - und manchmal sieht es so aus, als wären es 336. Doch immerhin sind ihre Hüften bis heute so schmal, dass sie problemlos ihre Jeans in der Jugendabteilung kaufen könnten. »Ich mag keine 60-Jährigen, die immer noch bauchfrei auftreten«, maulte einer in München. Er war Mitte 30, und sein T-Shirt spannte, als trüge er ein Kopfkissen unterm Gürtel.
Egal, was wirklich zählt: Die Stones haben in über 40 Musikjahren einen Schatz an Songs angehäuft, mit dem keine andere Band und kein anderer Held in der Geschichte des Rock'n'Roll aufwarten kann oder will. Die Beatles sind seit 33 Jahren tot. Bob Dylan hat kein großes Interesse, durch sein eigenes Museum zu spazieren. David Bowie ebenso wenig. Prince ist vor Verschwörungstheorien die Identität abhanden gekommen. Madonna - schon mal die neue Platte gehört?
Bleiben also die Stones. Bleiben also »Sympathy for the Devil«, »Brown Sugar«, »Sweet Virginia«, »Gimme Shelter«, »Get Off of My Cloud«, »You Can't Always Get What You Want«, »Wild Horses«, »Honky Tonk Women«, »Anybody Seen My Baby«, »Memory Motel«, »Shattered«, »Jumpin' Jack Flash«, »Midnight Rambler«, »She's a Rainbow«, »Worried About You« und an die 200 weitere Songs, welche die Stones im Lauf ihrer Karriere geschrieben haben. Etwa 130 davon haben sie in ihrem derzeitigen Repertoire - ständig abrufbereit. Jeden Abend wird gewechselt. Und es hilft, dass die Stones an vielen dieser Abende ziemlich gut aufgelegt sind.
So gut, dass man den Eindruck hat, sie wären wie weise Kreuzritter, gehärtet durch Schlachten, gereift durch Narben, erst jetzt am Gipfel angekommen, hätten erst jetzt die Perspektive, herabzublicken auf ihr Werk - souverän, manchmal ironisch, gelassen, leidenschaftlich: rollende Steine auf der Suche nach »Satisfaction« - immer noch.
Sie haben nie hineingepasst in den oft schmierigen Rock'n'Roll-Betrieb, sie waren stets Außenseiter, aber sie fühlten sich stets als Elite, wollten immer eins: Rebellen sein. Aber nicht irgendwelche, sondern die besten.
»Ich wollte an den Wochenenden nicht Rock, sondern Blues spielen«, sagt Mick Jagger über die Anfänge der Band. »Rockstars damals, das waren Cliff Richard oder Pat Boone und lauter mittelmäßige, langweilige Typen, die in grässlichen Theatern vor Leuten auftraten, die sich prügelten. Ein scheußliches, unsolides Geschäft war das - man wurde nicht bezahlt, und überall roch es nach altem Bier und ungewaschenen Kleidern. Also für Leute wie mich, junge Snobs meinetwegen, da war Rock'n'-Roll nichts.«
Also mussten sie sich ihre eigene Welt erfinden, sie mussten kämpfen, und als sie bei ihrer ersten Amerika-Tournee ihr großes Vorbild, den schwarzen Bluesmusiker Muddy Waters im Studio des Chefs eine Wand anstreichen sahen, weil er Geld brauchte, wussten sie, dass solch ein Kampf ziemlich lange dauern konnte.
Der Rest ist, na ja, Legende und eine Künstlerbiografie in Cinemascope.
Der erste Akt, ihr Aufstieg in den sechziger und siebziger Jahren, als sie dem Zeitgeist vorausritten, mit der dionysisch-dunklen Seite der Gegenkultur herumspielten, von Jean-Luc Godard mit einer Dokumentation geehrt wurden; als sie Bankrott gingen, nach Südfrankreich ins Exil flüchteten, Keith Richards tagelang mit einem Päckchen Heroin verschwand, Jagger mit Richards im Münchner Treppenhaus des Apo-Starlets Uschi Obermaier herumstritt, wer nun die Nacht mit ihr verbringen durfte.
Der zweite Akt, die Krise in den Achtzigern, als Jagger bei David Bowie herumheulte, er wolle nicht für den Rest seines Lebens der Sklave der Stones sein, und auf seinem Schloss für den Jet-Set Ballonfahrten veranstaltete. Und Richards? Der wurde um vier Uhr früh aus kleinen Clubs von seinen Fans auf den Schultern getragen, das Hemd zerrissen, ganz das ewige Rock'n'Roll-Tier, welches murmelte: »Was soll ich tun? Ich kann nicht Mick mit einem Revolver auf die Bühne zwingen und gleichzeitig Gitarre spielen.«
Der dritte Akt, der Widerspenstigen Zähmung, das Leben als Klassiker. Ende der achtziger Jahre rief Jagger Richards an, lud ihn in die Karibik ein, und als Richards auflegte, sagte er zu seiner Frau Patti: »Entweder ich bin morgen wieder da oder in ein paar Wochen.« Die beiden Streithähne setzten sich auf den Balkon, tranken eine halbe Flasche Wodka, klampften herum. 14 Jahre später tun sie es immer noch.
Im echten Leben wie bei den Interviews in München sind die Rolling Stones inzwischen ein Haufen verschrobener Charaktere, eine Art wandelnde Sitcom, ähnlich den »Golden Girls": Golden Boys.
Da ist einmal Ronnie Wood, 56, das ewige Greenhorn der Band, weil »erst« seit 28 Jahren dabei, zerfurcht und albern wie ein Mensch, der ein halbes Jahrhundert Guinness getrunken und sich nur von seinem Pub-Hocker erhoben hat, um Dartpfeile auf eine Scheibe zu werfen. Auf die Frage, wie er es finde, auf dieser Tournee zum ersten Mal nüchtern auf der Bühne zu stehen, sagt er: »Großartig, endlich sehe ich das Publikum und bekomme mit, was wir da eigentlich spielen.«
Da ist Keith Richards, ein Mensch, von dem der US-Komiker Bill Hicks einmal sagte, er sei zusammen mit den Küchenschaben wahrscheinlich das einzige Lebewesen, das im Stande sei, einen Nuklearkrieg zu überleben. Von einem eifrigen schwedischen Journalisten wurde er in München nach der ebenso eifrigen jungen schwedischen Wilde-Männer-Band The Hives gefragt, die immerhin für die Stones als Vorgruppe auftreten soll. Richards starrt den Schweden verwundert und ahnungslos an. Irgendwann wird es offenbar langweilig, sich für die Kopie der Kopie der Kopie seiner selbst zu interessieren.
Da ist Charlie Watts, der Drummer, ein Mann, der am liebsten immer zu Hause bleiben würde, der wie ein Schlafwandler und Friedensrichter durch die Streitereien seiner Kumpel schreitet, den Blick weit weg, so als hätte er immer nur eins vor Augen: seine Pferde in Devon und seine Frau Shirley, das einzige Wesen, mit dem er annähernd so lange verheiratet ist wie mit den Stones. Er kommt herein im braunen Maßanzug und bürstet spitzlippig erst einmal die Zigarettenasche vom weißen Tischtuch, murmelnd: »Mein Gott, das muss der Platz sein, an dem Keith gesessen hat.«
Und da ist der Boss der Bosse, Mick Jagger. Er sagt erst einmal, dass er seine Stimme schonen, nichts reden wolle, und dann redet sein Riesen-Ego die ganze Zeit. Fragen, die ihm nicht passen, übergeht er, manchmal glänzt er durch Selbstironie. Auf die Bemerkung, dass die Stones ihr Italien-Konzert im Sonnenlicht beginnen müssten, sagt er: »Sie meinen den Dracula-Effekt.« Die Antwort auf die Frage aber, wie er seine Hassliebe zu Keith Richards in einem Wort beschreiben würde, überlässt er Charlie Watts, der einfach nur sagt: »Hölle«. Worauf Jagger grinsend brummt: »Vielen Dank, Charlie.«
Es sind wahrscheinlich genau jene Hackereien und Scherze, welche die Stones über 40 Jahre zusammengehalten haben, und wer das Glück hat, sie diesen Sommer live zu erleben, bekommt die Poesie der großen Piratenbande des Rock'n'-Roll geboten: Den Anführer Jagger, der im Juli 60 wird, der immer noch vor Energie bebend auf die Bühne stürzt wie ein Vierjähriger, der sich weigert, ins Bett zu gehen - ein Getriebener, der, so sieht er aus, wegfliegen würde, wären da nicht seine Kumpel, die ihn festhalten auf dem Planeten Erde. Während sich die Gitarrenriffs durch ein Jahrhundert populärer Musik, durch Blues und Soul und Rock, fräsen, findet Jagger manchmal zur Ruhe: Es gibt nach wie vor kaum jemanden, der Otis Reddings Soulsong »That's How Strong My Love Is« druckvoller und rauer singt als dieser weißhäutige Großvater, der einmal auf der London School of Economics studiert hat.
In den sechziger Jahren nannte man sie die »größte Rock'n'Roll Band der Welt« - heute sind sie die ewige. Sogar jener Kritiker der »Süddeutschen«, der sie noch ein paar Tage vorher als lebende Leichen verhöhnt hatte, schrieb über das Konzert im Münchner Circus Krone, dass »da keine junge oder alte, sondern nur noch eine faszinierend gute Band auf der Bühne stand, vielleicht die beste, die ich live je gehört habe«. Und der Mann mit dem Kopfkissenbauch tippte gerührt auf das Display seines Telefons: »Ich war dabei bei der Geburt Jesu.«
Ganz ruhig. Ist doch nur Rock'n'Roll - aber einer, bei dem man an einem guten Abend das Gefühl hat, er sei ein musikalischer Roman: So, als fließe die ganze Welt blitzartig in einer einzigen großen, wahren Erzählung zusammen.