Zur Ausgabe
Artikel 65 / 98

Buchmesse Goodbye, Gutenberg

Die deutsche Buchbranche scheut das Geschäft mit den E-Books im Internet - sie will ihre Bestseller lieber wie bisher im Buchhandel verkaufen. Amazon hat seine Chance erkannt.
Von Joachim Kronsbein
aus DER SPIEGEL 42/2009

Das unscheinbare Ding wiegt so viel wie drei Tafeln Schokolade, hat das Format eines sehr dünnen Taschenbuchs und soll jetzt in Deutschland das Lesen revolutionieren.

Der kleine Kasten aus den USA heißt Kindle, kommt aus dem Internethaus Amazon und kann direkt per kostenloser UMTS-Flatrate aus dem Netz Texte aller Art herunterladen. Vor allem aber elektronische Bücher, die E-Books, die das gedruckte Buch verdrängen sollen. Ein in den USA schnell wachsender Markt.

Seit Jahren wird auch in Deutschland über diese Technologie debattiert, aber ein großes Geschäft wurde bislang nicht daraus. Das will Amazon mit seinem Kindle nun ändern und die Konkurrenz aufscheuchen. Ab dem 19. Oktober, kurz nach der Buchmesse, werden die ersten bestellten Geräte für den deutschen Markt ausgeliefert. 279 Dollar kostet ein Reader - mit Steuern, Versand und Zoll wird ein deutscher Kunde etwa 250 Euro los.

Dafür kann er sich innerhalb einer Minute in hundert Ländern dieser Welt aus dem Amazon-Shop bedienen - allerdings je nach Region und Rechtelage aus einem unterschiedlich großen Angebot. In den USA etwa waren in der vergangenen Woche 104 der 112 Titel von der Bestsellerliste der »New York Times« je für höchstens 9,99 Dollar zu haben. Selbstverständlich auch »The Lost Symbol«, der neue Verschwörungsthriller von Dan Brown, 45.

Der kommt am Mittwoch dieser Woche auch in Deutschland auf den Markt, passend zur Buchmesse, übrigens fast zeitgleich mit seinem deutschen Konkurrenten Frank Schätzing, dessen Zukunftsthriller »Limit« vergangene Woche erschien*. Ein neues Gerät, ein vielversprechender Zukunftsmarkt, zwei starke Bestseller - eigentlich ein perfekter Zeitpunkt, um ein neues Medium einzuführen.

Tatsächlich aber passiert: nichts.

Während Browns Werk in den USA für weniger als zehn Dollar im Netz als Schnäppchen zu bekommen ist, muss man für seine deutsche Übersetzung, Startauflage 1,2 Millionen Exemplare, in eine Buchhandlung gehen und 26 Euro hinlegen. Eine deutsche E-Book-Ausgabe ist nicht geplant. Und auch Schätzings Roman, Startauflage 400 000, gibt es erst Anfang nächsten Jahres im Netz.

Der deutsche Buchmarkt fremdelt mit der neuen Welt. Nach einer Schätzung der Firma Goldmedia wurden hierzulande bislang gerade einmal 10 000 Reader verkauft. Im ersten Halbjahr 2009 setzte die Branche laut der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) nur 65 000 E-Books ab - ohne Fachliteratur.

Anders als in Amerika sind die Preise für E-Books bei uns aber auch abschreckend hoch. Und ein Reader von Sony, Hauptkonkurrent des Kindle, im deutschen Buchhandel schon länger erhältlich, ist derzeit für etwa 250 Euro zu haben. Das Sony-Gerät kann allerdings nicht direkt aus dem Netz E-Books herunterladen. Relativ teuer im Vergleich zur Hardware bleibt allerdings der Kauf eines E-Books selbst. Es kostet hier stets

genauso viel wie die kostengünstigste Buchversion desselben Titels.

Der Preis fällt erst, wenn auch eine Taschenbuchausgabe auf den Markt kommt, und das dauert in der Regel ein bis zwei Jahre. Gerade bei Schätzings »Limit«, einem Science-Fiction-Roman, der Zukunftstechnologie feiert, ist diese Blockadepolitik nicht ohne Ironie.

Frank Schätzing, 52, dessen Bestseller »Der Schwarm« sich mit der Bedrohung durch die Unterwasserwelt befasst, zieht es in »Limit« nun ins All. Im Jahr 2025 ist der Mond ein naher Nachbar geworden, ein Teil der Strecke dorthin wird gar mit einem Weltraumfahrstuhl zurückgelegt. Und noch etwas macht den Planeten so attraktiv: Das Isotop Helium-3 ist dort in unerschöpflichen Mengen vorhanden. Es kann, zur Erde verfrachtet, die hiesigen Energieprobleme vollkommen lösen.

Doch auch im Jahr 2025, so Schätzings unwiderlegbare Arbeitsgrundlage, ist die Gier des Menschen genauso wenig ausgerottet wie sein nimmermüder Forscherdrang. Amerikaner und Chinesen streiten um die Vorherrschaft auf dem Mond, also um die Weltherrschaft. Ein bisschen zu ausufernd, ein bisschen zu detailverliebt, aber ungemein lehrreich und spannend, hat Schätzing das Werk in seiner bewährten didaktischen Mischung aus Fakten und Fiktion konstruiert.

Bei 1328 Seiten und einem Gewicht von 1,3 Kilogramm eigentlich der ideale Kandidat fürs handliche E-Book.

Doch sein Verlag argumentiert mit den hohen Kosten für die Software, die aus der Druckvorlage erst eine E-Book-taugliche Datei macht. Klingt nach einem Scheinargument. Denn alle Buchverlage des Holtzbrinck-Konzerns, zu dem auch Kiepenheuer & Witsch gehört, haben ein, so nennt es Verleger Helge Malchow, »elektronisches Lagerhaus« eröffnet, in dem die Aufbereitung der Daten stattfindet. Da wäre eine Mischkalkulation auf längere Sicht sicher ökonomisch sinnvoll. Zumal beim E-Book die hohen Papier- und Lagerkosten entfallen und auch die Aufwendungen, um die unverkauften Exemplare als sogenannte Remittenten vom Buchhandel zurückzunehmen.

In Wahrheit geht es um die in Deutschland noch gültige Preisbindung für - gedruckte - Bücher. Sie soll das Kulturgut Buch und kleine Buchhandlungen schützen, verhindert aber auch den Wettbewerb. Wenn sich das E-Book durchsetzen sollte, sind Buchhandlungen ohnehin auf Dauer überflüssig. E-Books werden im Internet ausgesucht, bezahlt und heruntergeladen. Kostengünstig, weil personalarm.

In den USA hat so bereits der schleichende Abschied von Johannes Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks, begonnen. Jeff Bezos, Amazon-Chef, ist sich sicher: »Das Buch hatte einen guten Lauf, der 500 Jahre gedauert hat. Es war eine unglaublich erfolgreiche Technologie. Aber nun ist es Zeit für eine Veränderung.« Goodbye, Gutenberg.

Schon jetzt verkaufe sich bei Amazon. com von jedem Buch, das gleichzeitig gedruckt und digital vorliegt, fast jedes zweite als E-Book. Mit genauen Zahlen hält sich die Firma sonst allerdings eher zurück. Schätzungen gehen davon aus, dass der Markt für Lesegeräte in den USA von jetzt einer Million verkaufter Einheiten auf zwölf Millionen Einheiten im Jahr 2012 steigen wird.

Bislang sind in Deutschland offenbar professionelle Leser - Verlags- und Geschäftsleute, die große Textmengen zu bewältigen haben - nahezu die einzigen Reader-Kunden. Nur jeder zwölfte Deutsche weiß laut einer aktuellen Umfrage zur Buchmesse etwas Konkretes mit den neuen Geräten zu verbinden. Sieben von zehn Deutschen ziehen generell das gedruckte Buch dem E-Book vor.

Vielleicht stecken hinter der Skepsis des deutschen Markts auch die Erfahrungen der Tonträgerindustrie, die durch die Piraterie vor gut zehn Jahren in die größte Krise ihrer Geschichte getrieben wurde - vor allem, weil illegale Kopien sich wie Viren über das Netz verbreiteten, ohne dass es lange die Möglichkeit gab, Musikdateien legal zu erwerben.

In den USA, so scheint es, haben die Büchermacher aus dem Desaster in der Musikindustrie zu lernen versucht. Sie reagieren schnell auf die neue Technik und bieten dem Kunden eine preisgünstige Alternative zum gedruckten Buch und zum illegalen Raubrittertum im Netz.

Denn früher oder später umgehen Internetpiraten jeden Kopierschutz. So war es auch beim amerikanischen Start von Dan Browns »The Lost Symbol«. Kaum war der etwas langatmig geratene Thriller über die geheime Macht und die versteckten Symbole der Freimaurer in Washington im Handel, gab es auch schon Netzversionen zum illegalen Runterladen - gratis.

Das gedruckte Buch wird dennoch weiterleben, irgendwie, da sind sich alle einig. Als aufwendiges Coffee-Table-Book, als bibliophile Ausgabe auf kostbarem Papier und in exquisiter Ausstattung oder vielleicht doch nur noch im kollektiven Gedächtnis als wehmütige Erinnerung an einen altertümlichen Gegenstand.

Aus dem Kindle jedenfalls fallen keine Metro-Fahrscheine heraus, die einmal als Lesezeichen dienten. Und falls Urlaubssand aus ihm rieselt, ist er vermutlich kaputt. JOACHIM KRONSBEIN

* Dan Brown: »Das verlorene Symbol«. Aus dem Amerikanischen von S. Bauer, A. Koonen, A. Merz, H. Pesch, D. Schmidt, R. Schumacher. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 768 Seiten; 26 Euro. Frank Schätzing: »Limit«. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 1328 Seiten; 26 Euro.

Zur Ausgabe
Artikel 65 / 98
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren