KREBS-KONGRESS Gordischer Knoten
Die Wissenschaftler«, so umschrieb vor drei Jahren der amerikanische Biochemiker und Nobelpreisträger Severo Ochoa das atemraubende Fortschrittstempo der Naturwissenschaft, »fangen an, Gott zu spielen.« Auf einem Feld der Forschung aber, dem dringlichsten der Medizin, haben die Wissenschaftler Demut lernen müssen.
4000 Krebsforscher aus mehr als 60 Ländern trafen sich letzte Woche zum Neunten Internationalen Krebsforscherkongreß in Tokio. Ihre Zahl und die kaum übersehbare Vielfalt der Vorträge verdeutlichten den gewaltigen Aufwand an Forschergeist und Geld, der seit Jahren diesem Wissenschaftszweig gewidmet wird.
Erfolge wurden in Tokio gemeldet - aber es waren wieder, wie bei allen vergangenen Kongressen, nur Teilerfolge, nur tastende Schritte auf dem mühevollen Weg zur Beherrschung der Schreckenskrankheit Krebs.
Bestätigt und vertieft sind inzwischen die Theorien, die von den Biochemikern während der letzten Jahre über den Mechanismus der krankhaften Zell-Entartung aufgestellt wurden: Trillionenmal im Laufe eines Menschenalters werden die spiralförmigen Baupläne des Lebens im Innern einer Zelle gleichsam wie eine Blaupause auf nachwachsende Tochterzellen übertragen. Und mitunter kommt es dabei zu Irrtümern, zu einer Art Druckfehler im genetischen Kode - er führt dazu, daß die Tochterzellen hemmungslos zu wuchern anfangen.
Professor Ochoa, Biochemiker an der Universität New York, erläuterte in seinem Eröffnungsvortrag am Montag letzter Woche dieses inzwischen gesicherte Denkmodell. Und er konnte schon erste Vermutungen darüber äußern, an welcher Stelle des spiraligen Kettenmoleküls das genetische Mißverständnis in die Bauordnung der Zelle einbricht.
Zufallsentdeckungen sind auch an der höchst planmäßig vorangetriebenen Front der Krebsforschung möglich - das bewies ein Bericht des Chicagoer Mediziners Dr. Umberto Saffiotti über seine verblüffenden Beobachtungen bei Tierexperimenten mit Vitamin A.
Saffiotti, der sich - wie Hunderte von Forschern in aller Welt - mit der Lungenkrebs auslösenden Wirkung des Teerbestandteils Benzpyren befaßt, wählte Hamster für seine Experimente. Überraschendes Resultat:
- Von 53 Tieren, deren Bronchien Dr. Saffiotti mit Benzpyren traktierte, erkrankten 16 an Lungenkrebs.
- Von 60 Hamstern, die er ebenso, jedoch zusätzlich mit Einspritzungen von Vitamin A, behandelte, erkrankte nur einer an bösartigem Lungentumor.
Ob diese geheimnisvolle, vielleicht gegen Lungenkrebs vorbeugende Wirkung von Vitamin A sich auch in anderen Tierversuchen oder gar beim Menschen bestätigt, ist noch ungewiß.
Daß Sensationen - obwohl dies Wort in der Tagesberichterstattung aus Tokio nicht selten auftauchte - im Kampf gegen den Krebs kaum zu erwarten sind, bewies die Debatte um die heißeste Spur, die seit Jahren von den Krebsforschern verfolgt wird: Sind Viren Auslöser des Blutkrebses (Leukämie) beim Menschen?
Zwei Wochen vor dem Kongreß war der amerikanische Wissenschaftler Peyton Rous mit dem halben Nobelpreis für Medizin gewürdigt worden. Rous hatte vor nunmehr 56 Jahren zum erstenmal einen (in den Knochen von Hühnern) durch Viren ausgelösten Krebs beobachtet.
Seither fahnden die Forscher auch im Gewebe krebskranker Menschen nach Viren. Aber die Kardinalfrage, ob Viren auch beim Menschen Krebs hervorrufen, konnte in Tokio noch immer nicht schlüssig beantwortet werden.
Die amerikanischen Forscher Paul H. Levine und James,T. Grace vom Roswell Park Memorial Institute in Buffalo (US-Staat New York) sind sicher, im Blut von 46 Leukämie-Kranken »virusähnliche Partikel« gefunden zu haben. Und sowjetische Wissenschaftler sprachen von »einem bestimmten Etwas«, das sich im Blut Leukämie-Kranker gefunden habe.
Ob dieses Etwas nur Begleiterscheinung oder Erreger der Krankheit ist, blieb bislang ungeklärt. So ist auch die Hoffnung, dereinst durch Züchtung etwaiger Leukämie-Viren einen vorbeugenden Impfschutz gegen den Blutkrebs zu entwickeln, bisher nur ein ferner Dämmerschein am Horizont.
Und selbst wenn dies gelänge, würden die Mediziner damit erst eine der über 120 verschiedenen Krebsarten beherrschen, denen noch immer Jahr um Jahr nahezu drei Millionen Menschen auf der Welt erliegen.
»Ich gebe der Hoffnung Ausdruck«, hatte Japans Kronprinz Akihito die in Tokio versammelten Wissenschaftler begrüßt, »daß die Forschung den gordischen Knoten Krebs durchtrennen möge.« Ende letzter Woche, nach siebentägiger Diskussion in zwölf Hörsälen, war deutlich, daß auch im jüngsten Berichtszeitraum der unheilvolle Knoten nirgends durchtrennt, allenfalls geringfügig gelockert wurde.
Krebsforscher Ochoa
Ein bestimmtes Etwas