SCHRIFTSTELLER / GIORNO Grass per Post
Erst kam ein Paket aus Jamaika. Dann kam die Polizei: »Sie stürzte mit gezogenem Revolver herein, erklärte mich für verhaftet, legte mir Handschellen an und riß mir die Kleider vom Leib, um mich zu durchsuchen.«
Der Durchsuchte war der amerikanische Lyriker John Giorno. Die dramatische Schilderung seiner Verhaftung durch die New Yorker Polizei gibt er in einem Brief an seinen deutschen Verleger Jörg Schröder (März-Verlag), der ihn zum Erscheinen einer ersten deutschen Giorno-Ausgabe unter dem unübersetzten Titel »Cunt« nach Frankfurt eingeladen hatte*.
Die Polizisten fanden in der Dichter-Mansarde -- 222 Bowery, New York -, was sie suchten: Das von einem Unbekannten namens Kennedy in Jamaika aufgegebene Paket enthielt über zwei Pfund Marihuana ("Grass") und rechtfertigte die Festnahme des Empfängers wegen »illegalen Besitzes einer gefährlichen Droge«.
Daß Paket und Polizei fast gleichzeitig und überdies just fünf Stunden vor Giornos geplantem Abflug zur Frankfurter Buchmesse eintrafen, erscheint dem Dichter nicht zufällig: »Schließlich wird mein Telephon mit hundertprozentiger Sicherheit seit zwei Jahren abgehört. Acht Bullen hatten zweieinhalb Stunden auf mich gewartet, um mich wegen eines Pakets fertigzumachen, das sie selbst an mich geschickt hatten.«
Und Giorno« der selbst »nur etwa sieben Gramm Grass« im Hause hatte, sieht in der Aktion noch einen tieferen
* John Giorno: »Cunt«. März-Verlag, Darmstadt; 72 Seiten; 8 Mark. -- Cunt = Vulgärwort für vagina.
Sinn: »Zweifellos ist das ein Komplott, um mich wegen meines politischen Engagements zu fassen ... Man will die Bewegung sprengen.«
Was Giorno »die Bewegung« nennt, ist der eher ästhetisch als politisch wirksame Underground. Dort ist John Giorno nicht nur dichtend, sondern auch duftend, tönend und sogar schlafend erfolgreich:
Für den Pop-Artisten Andy Warhol schlummerte er in wochenlangen Dreharbeiten als Haupt- und Alleindarsteller des inzwischen berühmt gewordenen Sechs-Stunden-Films »Sleep«, der sechs Stunden lang nichts als den schlafenden Giorno zeigt.
Zusammen mit 34 Kollegen organisierte er die Aktion »Dial A Poem« (Rufe ein Gedicht an): Über zehn New Yorker Telephonanschlüsse wurden viereinhalb Monate lang mit täglich wechselndem Programm Anrufer mit Poesie vom Tonband bedient. Nach 1 112 337 Anrufen ging den Lyrik-Lieferanten das Geld aus.
In der St-Markus-Kirche in New Yorks Slum-Viertel Bowery ließ Giorno mehrere Stunden lang seine Gedichte »Johnny Guitar« und »Cunt« über sechs Stereo-Lautsprecher schallen. Dazu flackerte bunt eine Lichtorgel (4500 Watt), räucherten drei Dutzend Kerzen und pustete ein »Intervall-Duftdispensor« das Aroma von Schokoladenbonbons in die Kirche. Neben dem Altar stand ein 20-Liter-Krug mit LSD-Punsch, außerdem gab es »Beat, Essen, Wein« Haschisch-Suppe, Haschisch-Kuchen und 600 Joints«.
Giorno hatte auch schon eine Schallplatte voller vielstimmig rezitierter und mit Hall-Effekten verstärkter Giorno-Verse produziert. Für das Underground-Blatt »Culture Hero« schreibt er eine ständige Klatsch-Kolumne. Mit seinen Gedichten und seinem elektronischen Gerät reist er von College zu College, um mit Flackerlicht und psychedelischem Farbspiel, mit Ton-Tricks und Duftkerzen zur -- so das »Cunt«-Nachwort- »Erweiterung der Lyrik zu kommen
Seine Lyrik, so zeigt der deutsche »Cunt«-Band« hat das auch nötig. Die häufig aus vorgefundenem Material -- Werbung, Gebrauchsanweisungen, Kleinanzeigen -- montierten Texte bieten vorwiegend Brutales und Pornographisches für Päderasten. Im braven alten Buchdruck, ohne Hall-Effekt, sind Giornos Gedichte, so räumt denn auch »Cunt«-Herausgeber R. E. John ein, »nur eine Art Partitur zu einem Gedichtereignis«.
Nach Giornos Verhaftung sind solche Ereignisse notwendiger denn je. Gegen 10 000 Mark Kaution, aufgebracht von »meinen Freunden und Anwälten«, wieder auf freien Fuß gesetzt, sieht der Dichter einem »ungeheuren Rechtsstreit mit der Regierung wegen illegaler Verhaftung« und hohen Anwaltskosten entgegen. An März-Verleger Schröder schrieb er: »Wir planen noch für diesen Monat eine riesige Dichterlesung zugunsten des John-Giorno-Rechtshilfe-Fonds.«