ARCHITEKTUR Grenzen des Wilden
Der Bischof hatte Post aus Deutschland, reichlich. Der Deutsche Werkbund und der Bund Deutscher Architekten schrieben ihm, die Berliner Sommerakademie für Architektur, aber auch einzelne Architekten. Alle wandten sich an den Gottesmann in seiner Eigenschaft als oberster Bauherr der Katholischen Universität Löwen. Ihre Fürbitte: Schaden zu wenden von dem Studentendorf der medizinischen Fakultät.
Denn das Quartier in dem Brüsseler Vorort Woluwe-Saint-Lambert macht, wie schon im vergangenen Jahr, wieder Schlagzeilen in der internationalen Baufachpresse -- nur diesmal mit umgekehrtem Vorzeichen.
Als »einzigartiges, modellhaftes Experiment« hatte der Architekturtheoretiker Gerald Blomeyer die Gebäudegruppe gerühmt; nirgendwo sonst habe die Studienreform so konkret Gestalt gewonnen wie in der »antiautoritären Architektur« von Woluwe. Der englische Kritiker Charles Jencks meinte, um sie beschreiben zu können, müsse er sich erst neue Termini ausdenken.
Der Marburger Architekturhistoriker Heinrich Klotz hatte sie: Hier habe ein Architekt »die weitestgehende Lösung gefunden, Mitsprache in der Vernichtung von Perfektion sich äußern zu lassen und Architektur bis an die Grenzen des Wilden geführt zu haben«.
Die »Deutsche Bauzeitung« beglückwünschte denn auch die Universitätsverwaltung zu ihrem »Mut, eine solche experimentelle Architektur zu realisieren«. Nun hat der Mut sie, auf halbem Weg, verlassen. Die bunten Bauten wurden ihr zu bunt.
Während Architekten und Studenten aus halb Europa noch busweise zu dem halbfertigen Studentendorf wallfahren, wurden Architekten und Gärtner gefeuert, kollaborierende Beamte versetzt und ein neuer Bebauungsplan in Auftrag gegeben. »Die Bürokratie schafft ihre Ordnung«, schreibt die »Bauwelt": »Das Fest ist vorbei.«
Begonnen hatte es im Sommer 1969 -- nach den Studentenunruhen -, als die Jungmediziner von Löwen gegen ein konventionelles Neubaukonzept votierten. Sie lehnten es ab, in »faschistischen« Skelettbauten untergebracht zu werden.
»Wir wollen uns nicht vom traditionellen Arztbild prägen lassen«, erklärten sie, »wir wollen entsprechend auch anders leben als die konventionellen Ärzte.« Sie wollten kein universitäres Getto« keinen »akademischen Club Méditerranéc«, sondern -- praktisch in Kontakt mit ihren künftigen Patienten -- in enger Verbindung mit der Umwelt leben.
Den geforderten sozialen Wohnungsbau samt seinen Folgeeinrichtungen lehnte die Universitätsverwaltung aus »technischen« Gründen ab; doch sie gestand den Studenten einen Architekten eigener Wahl zu -- ahnungslos.
Denn die Studenten entschieden sich für den Brüsseler »Situationisten« Lucien Kroll, 51, der den Funktionalismus und »saubere Lösungen« als »kriminell« ablehnt und sich in geistiger Verwandtschaft mit dem Wiener Anti-Funktionalisten Friedensreich Hundertwasser wähnt. Credo: »Nur wenn Architekt, Maurer und Bewohner eine Einheit sind, kann man von Architektur sprechen.«
Um die Wohnwünsche der künftigen Benutzer realisieren zu können, weckte Kroll ihre Vorstellungen in schier endlosen Diskussionen. Als dann die ersten Bauten längs der Gartenstadt Kapelleveld emporwuchsen, schrieb die »Asbestzement-Revue": Dies sei »vielleicht die geeignete Umwelt, einen neuen Typ des Mediziners zu schaffen«.
Denn im Gegensatz zu den kastenförmigen Hörsaalbauten und dem benachbarten »furchterregenden« Krankenhaus mit seiner »langweiligen Horizontalität« (so das Fachblatt »Baumeister") entstand ein pittoreskes Quartier, dessen Gebäude wie aufgestapelte Buden aussehen -- Studentenbuden.
Die vier fertiggestellten Bauwerke (Kosten: knapp 60 Millionen Mark) sind ein Gemeindezentrum und die Mensa, eine Schule sowie der Wohntrakt, den Kroll in eine »Mémé« und den »Fasciste« unterteilte: in eine unordentliche Ambiance aus Maisonnetten und Speichern mit Winkeln und Treppchen -- und eine ordentliche Reihung von Räumen an Korridoren.
Diese Bauten »würden manchen bundesrepublikanischen Baupolizisten in Ohnmacht sinken und Versicherungsprämien in aberwitzige Höhen klettern lassen«, befand der Münchner Kritiker Paulhans Peters.
Die Häuser haben keinen Haupteingang; man kann sie an vielen Stellen betreten und verlassen -- sogar über das Glasdach der Mensa führt eine Fußgängerbrücke. Ein Polizist, der einen Brief zustellen wollte, irrte hilflos im Gelände umher -- »er wurde mit dem Haus nicht fertig« (Kroll).
Verschiedene Geschosse sind nur durch Leitern miteinander verbunden. »Denn eine Treppe«, findet der Architekt, »soll keine vertikale Autobahn zwischen zwei Punkten, sondern ein Spaziergang sein.«
Die Häufung schmaler, hoher, ausgezahnter Baukörper ist auf kleinsten Flächen von unterschiedlichsten Materialien umschlossen. Ein aufgeregter Beamter zählte sechs: Glas und Holz,. Stein und Stahl, Beton und Aluminium. Kroll konnte ihn korrigieren -- er zählte ihm 22 auf.
So verblendet Spiegelglas zum Beispiel den Abschnitt »Le Fasciste« -- analog den Spiegelbrillen von Polizisten, »bei denen man keine Augen sieht« (Kroll).
Kinder durften bestimmen, wie ihre Schule aussehen soll -- außen wie eine Burg, innen wie ein Wald. Die Schule liegt nun unter einer Kneipe, und Bilder wurden nach Belieben gehängt -- manche kopfunten. Schließlich sollten auch die Bauarbeiter ihre Vorstellungen realisieren können.
Die Leute vom Bau schufen einen »Elefantenfuß": einen Steinhügel -- an ein Haus geschüttet -, den die Zeit mit Grünwuchs überziehen soll. Sie legten Blätter, Blumen und Baumrinde in die Betonverschalungen und gaben den Wänden so zarte Ornamente. Sie errichteten die überlebensgroßen Ziegelsteinplastiken »Mann« und »Frau«, die nun wie lustige Roboterfiguren an einem Treppenaufgang stehen.
Kraus antiautoritärer Architektur entsprach im Freien der holländische Gartenkünstler Louis LeRoy mit »Schuttgärten« und »Pflanzenguerilla": Zwischen Bauschutt und planlosen Erdaufschüttungen, von Trampelpfaden durchzogen, sollten und wollten die Studenten auf die »Rückkehr der Natur mit ihren Zufälligkeiten« warten.
Einige säten zwar Schnittlauch und Petersilie; die meisten begnügten sich aber damit, die Ökologien zu beobachten, die sich nach der ersten Generation der Brennesseln entwickelten -- mit ungewohntem Falter- und Insektenreichtum.
Das Experiment von Woluwe-Saint-Lambert beschäftigte die Fachwelt wie lange kein Bauvorhaben in Europa. Krolls Bauten gegen die Bürokratie und LeRoys Gärten gegen die Sauberkultur mobilisierten schließlich aber auch die Verantwortlichen: die Bürokraten und Saubermänner in der Universitätsverwaltung. Im Frühjahr übernahm die Autorität wieder das Regiment. In Woluwe-Saint-Lambert kehrte Ordnung ein.
»Bunte Bauten und wilde Gärten sind eben wie Bärte und lange Haare verglich Kroll: »Unkraut.« Resümee: »Wir wurden rasiert,«
Der Architekt erhielt Hausverbot; der Gartenkünstler war sowieso längst unerwünscht. Sympathisanten in den Bau-, Sicherheits- und Wohnungsabteilungen wurden versetzt. Unter Polizeischutz wurden die Gärten planiert, Pfade und Fußwege begradigt und auf doppelte Autobreite gebracht. Vor allem wurde ein erprobter Professor mit der Abfassung eines neuen Bebauungsplanes betraut.
Schon ist die Trennung zwischen der Gartenstadt Kapelleveld und dem Campus wieder unübersehbar: durch eine breite Straßenschneise. Eine gemeinsame U-Bahn-Station, die gleichfalls zur Verflechtung beitragen sollte, wird verlegt; ein Mehrzweckzentrum soll nicht mehr gebaut werden.
Schlimmes befürchten die Studenten von dem neuen Bebauungsplan. Sie rechnen mit 12- bis 20geschossigen Skelettbauten in der verhaßten »Autobahnarchitektur«, und ein Protestplakat zeigt ihre traurige Vision: Das malerische Kroll-Dorf ist wie von Zuchthausmauern umstellt, und eine breite Autopiste zielt mitten ins Zentrum.