Umstrittenes U-Bahn-Projekt in Thessaloniki »Wir haben schon genug Antikes in Griechenland«

Die U-Bahn in Thessaloniki ist ein Milliardenprojekt – doch bei den Bauarbeiten wurde eine antike Handelsstraße entdeckt. Jetzt ringt das Land darum, was wichtiger ist: der Fortschritt oder das kulturelle Erbe.
Von Giorgos Christides, Thessaloniki
Metro-Baustelle in Thessaloniki: »Wir haben schon genug Antikes in Griechenland«

Metro-Baustelle in Thessaloniki: »Wir haben schon genug Antikes in Griechenland«

Foto: Alexandros Avramidis

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Wer in Thessaloniki zweitausend Jahre in die Vergangenheit reisen möchte, muss sich in die Egnatia-Straße begeben. In der Einkaufsmeile im Zentrum der zweitgrößten Stadt Griechenlands tummeln sich Passanten und Kundschaft, Einheimische und Touristen. Nicht zu übersehen, mitten im Trubel klafft ein gähnendes Loch. Hinter einer Absperrung werkeln Arbeiter mit Helmen und Ingenieure. Die Grabungsstelle erreicht man dann über eine Treppe, sie führt knapp sechs Meter in die Tiefe.

Unten angekommen fühlt man sich, als hätte man eine Pforte in eine andere Zeit geöffnet. Dort verläuft eine andere Straße, parallel zu ihrem belebten Gegenstück direkt über ihr. Anstelle von Autos, Menschen, Neonlichtern und Ampeln findet sich ein marmorgepflasterter Weg, 76 Meter lang und 7,5 Meter breit. Es ist das am besten erhaltene Teilstück der legendären antiken Via Egnatia.

Ein Kulturverbrechen gegen das historische Vermächtnis?

Von den Römern im 2. Jahrhundert im Auftrag des Senators Gnaeus Egnatius erbaut, verband die Via Egnatia Konstantinopel (das heutige Istanbul) mit der Adria. Jeder griechische Schüler kennt sie. Der Heilige Paulus war auf ihr unterwegs, die Armeen von Julius Cäsar und Pompeius, Kreuzfahrer, byzantinische Kaufleute und Diebe. Da sind die Überreste von Läden und Goldschmiedewerkstätten, ein eingestürzter monumentaler Steinbogen, ein Abwasserkanal und Wasserleitungen. Ein bemerkenswertes Zeichen dafür, dass sich das kommerzielle Zentrum der Stadt schon vor 1700 Jahren an dieser Stelle befand. Archäologen sagen, das sei einmalig in der Welt.

In Thessaloniki war man begeistert, als dieser Abschnitt der Via Egnatia 2012 gefunden wurde. Stolz erinnerte man an die über 2000-jährige Geschichte der Stadt, die insgesamt 15 Unesco-Welterbestätten vorweisen kann. Doch inzwischen ist der Fund zum Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung geworden. Denn die Straße wurde bei Bauarbeiten für die U-Bahn entdeckt, die in Thessaloniki endlich entstehen soll; dass sie so gut erhalten war, überraschte alle.

Via Egnatia: Beleg der Präsenz des Lebens in der Stadt

Via Egnatia: Beleg der Präsenz des Lebens in der Stadt

Foto:

Alexandros Avramidis

Der U-Bahn-Bau wurde vorerst gestoppt. Griechische Gerichte und Denkmalschutzbehörden mussten über zahlreiche Klagen befinden, denn die Bauherren hatten beschlossen, die antike Straße Stein für Stein abzutragen und zu lagern, um sie nach Abschluss der Arbeiten an der Metrostration wieder aufzubauen. Es sei die einzige technisch und finanziell realisierbare Lösung, so die Argumentation. Kritiker dieser Idee bezweifeln nicht nur den Wahrheitsgehalt der Argumente. Sie halten das geplante Vorgehen auch für ein Kulturverbrechen gegen das historische Vermächtnis Griechenlands und Europas.

Nachdem der oberste Gerichtshof des Landes nun mit einer hauchdünnen Mehrheit dem Abriss und Wiederaufbau zustimmte und so den Weg zur Wiederaufnahme der Bauarbeiten ebnete, ist der Streit jetzt komplett eskaliert.

Die U-Bahn für Thessaloniki wurde 2004 mit dem Versprechen angekündigt, die Pendlerzeiten zu verkürzen, die Umwelt zu schonen und die Stadt vor dem Verkehrsinfarkt zu bewahren. Für das aktuell größte griechische Infrastrukturprojekt wurden 1,5 Milliarden Euro investiert. Das Vorhaben wird kofinanziert von der EU. Die Bauarbeiten begannen 2006 und sollten ursprünglich sechs Jahre später abgeschlossen sein. Wegen Finanzproblemen, aber auch wegen der archäologischen Grabungen wird heute mit einer Fertigstellung nicht vor Ende 2023 gerechnet – im besten Fall.

Bauarbeiter in den antiken Ruinen: Überreste von Läden und Goldschmiedewerkstätten

Bauarbeiter in den antiken Ruinen: Überreste von Läden und Goldschmiedewerkstätten

Foto: Alexandros Avramidis

Vielen Bürgern Thessalonikis dauert das zu lange. »Wir haben schon genug Antikes in Griechenland«, kommentiert ein Passant beim Blick durch den Bauzaun. »Es wird Zeit, dass wir auch moderne Infrastruktur bekommen.« Laut einer Umfrage von 2019 befürworten 51 Prozent der Einwohner das Abtragen der Via Egnatia, damit es endlich beim U-Bahn-Bau weitergeht. 38 Prozent sagen, der Grabungsfund solle bleiben, wo er ist.

Der Chef des Metro-Bauunternehmens Nikos Tachiaos sagt, dass die Entfernung der Straße nichts an ihrem Wert ändere, da sie ja wieder an den Originalstandort zurückkehre. Am Dienstag machte der Gerichtshof seine Entscheidung auch offiziell öffentlich. Dem SPIEGEL bestätigte Tachiaos, dass seine Arbeiter, sobald nun auch die Regierung den Auftrag erteilt, mit dem Abtragen der Via Egnatia beginnen werden.

Letzte Hoffnung: Premierminister Mitsotakis

Das Projekt solle binnen vier Monaten abgeschlossen sein. Die von den Verfahrensgegnern befürwortete Lösung – ein Belassen der Straße an ihrem Fundort – wäre zeitraubend, kostenintensiv und ziemlich wahrscheinlich technisch unmöglich.

Die Gegenseite führt an, dass ein Entfernen antiker Funde das wichtigste Produkt Griechenlands unterminiere: die Kultur. Die Entdeckung der alten Via Egnatia dokumentiere die permanente Präsenz des Lebens in der Stadt. »Die antike Straße verläuft da, wo sich heute die moderne Straße befindet«, sagt Angelos Chaniotis, ein renommierter Professor für Alte Geschichte und Klassische Philologie, der im Moment an einem Privatinstitut in Princeton forscht. »Stellen Sie sich vor, dass Archäologen in zweitausend Jahren das Brandenburger Tor in Berlin entdecken, das nicht nur gut erhalten ist und sich in einer Stadt befindet, die heute noch existiert, sondern auch eine ähnliche Funktion erfüllt wie vor zweitausend Jahren. Würden die Deutschen wollen, dass das Tor demontiert und anschließend wieder zusammengebaut wird?«.

Überbleibsel der Via Egnatia: »Man kann es nicht einfach abmontieren und dann wieder zusammensetzen«

Überbleibsel der Via Egnatia: »Man kann es nicht einfach abmontieren und dann wieder zusammensetzen«

Foto: Alexandros Avramidis

Chaniotis argumentiert, dass die von der Regierung und den Bauherren favorisierte Lösung die Glaubwürdigkeit Griechenlands beeinträchtige, mit kulturellem Erbe gut umzugehen: »Wir können nicht vom British Museum die Rückgabe der Parthenon-Marmore verlangen, wenn der griechische Staat derart bedeutende Altertümer aufs Spiel setzt.« Kritiker befürchten zudem, dass die Straße, wenn sie erst entfernt ist, nie zurückgebracht werden wird. Und selbst wenn, wäre ihr Wert geschmälert: »Dies ist kein Mosaik; man kann es nicht einfach abmontieren und dann wieder zusammensetzen«, sagt Chaniotis.

Chaniotis, internationale Akademiker und griechische Archäologen setzen nun ihre letzte Hoffnung auf Premierminister Kyriakos Mitsotakis. Die Diskussion über den Fall in der EU anzuregen, ist Teil ihres Plans, den Premierminister umzustimmen. Gerade ist deshalb eine Reihe von Artikeln in der internationalen Presse erschienen, auch in Deutschland.  Eine Initiative von Europaabgeordneten ist für die nähere Zukunft geplant.

In einem gemeinsamen Brief appellierten Dutzende renommierte Experten bereits an Mitsotakis, einzugreifen. Wenn ihre Forderungen nicht beachtet würden, warnen sie in ihrem Schreiben, wäre es eine Katastrophe für Griechenland. Sie käme der Bombardierung des Parthenon 1687 gleich.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese
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