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KUNST / PICASSO Große Barmherzigkeit

aus DER SPIEGEL 53/1970

In diesen Tagen ist nicht die Zeit zum Feiern.« So sprach Barcelonas Bürgermeister José Maria de Porcioles und ließ ganz unfeierlich die Türen zu einem gotischen Adelspalast öffnen.

Dort, im Haus Nummer 17 der Calle de Montcada, Ist seit dem vorletzten Wochenende eine große, bis dahin unzugängliche Picasso-Sammlung zu besichtigen -- eine Spende des 89jährigen Malers. Im Februar dieses Jahres hatte Picasso der Stadt Barcelona, wo er von 1895 bis 1904 wohnte, 213 Gemälde, 681 Zeichnungen und 17 Skizzenbücher zum Geschenk gemacht.

Damit schien eine Versöhnung zwischen Picasso und seinem Heimatland eingeleitet, das er vor mehr als 30 Jahren endgültig verlassen und nicht wieder zu betreten gelobt hat, solange der Generalissimus Franco herrsche. Mit einem festlichen Empfang zur Museumseröffnung wollten die Spanier ein neues Einvernehmen demonstrieren.

Kurz vor dem angesetzten Fest-Termin jedoch gab der Maler Bescheid, alle Zeremonien hätten zu unterbleiben. Picasso, über den Basken-Prozeß in Burgos erbittert und mit französischen Anti-Franco-Demonstranten solidarisiert, wollte seinen Namen nicht für spanische Prestige-Aktionen hergeben, aber auch keine Verschiebung der Vernissage dulden. Dem Bürgermeister, der über die Schwierigkeiten lamentierte, Ehrengäste wieder abzubestellen, ließ er ausrichten, für solche Fälle sei das Telegramm erfunden worden.

Über den Mangel an Festreden kann die Kulturbeamten von Barcelona aber das Bewußtsein trösten, nunmehr die größte öffentliche Picasso-Kollektion der Welt zu verwalten. Denn schon 1963 hatten sie ein Dutzend Picasso-Gemälde und über 400 Graphiken als Stiftung entgegennehmen können.

Sie »stammten vom Jugendfreund, späteren Sekretär und Manager Picassos, Jaime Sabartés (1882 bis 1968), der seinem Meister »so ergeben war wie ein Trappist seinem Gott« (wie die zeitweilige Picasso-Geliebte Francoise Gibt schrieb).

Für diese Treue war Sabartés reichlich mit Kunst beschenkt worden, und im Alter plante er, die Freundesgaben der Picasso-Geburtsstadt Malaga zu vermachen. Picasso aber wollte das erste (und bis heute einzige) ihm allein gewidmete Museum lieber in Barcelona haben.

Nach dem Tod »seines Intimus gab der Künstler dann auch seine 1957 gemalten Paraphrasen eines berühmten Velazquez-Bildes, die 58teilige »Meninas«-Serie, mit allen Skizzen in diese Weihestätte. Und regelmäßig sendet er seither Vorzugsexemplare seiner neuen Graphiken mit dem Vermerk »Für meinen Freund Sabartés« nach Barcelona.

Dem Verstorbenen ist auch die neue Schenkung gewidmet, die freilich immer schon am Ort lagerte. Sie besteht aus Jugendwerken, die Picasso 1904, als er nach Paris zog, zurückgelassen hatte, und einigen 1917 während eines Aufenthaltes in Barcelona entstandenen Arbeiten. Die Studien und Gemälde ruhten in Kisten und Koffern im Hause des Picasso-Clans, anfangs von der Mutter des Künstlers, später von seiner Schwester Dolores bewacht. Erst nach deren Tod, 1958, wurde der Bestand inventarisiert und photographiert,

Zum Vorschein kamen Bilder, die teils auf Deckel von Zigarrenkisten oder auf beide Seiten einer Leinwand gemalt waren, zerknüllte Zeichnungen, Skizzen auf Speisekarten, Rechnungen und Briefumschlägen, ferner Unterschrifts-Übungen, ein bemaltes Tambourin und eine mit Illustrationen versehene lateinische Grammatik. Zu den ältesten Überbleibseln aus dieser Picasso-Frühgeschichte zählt ein vom neunjährigen Knaben gezeichneter Soldat; das größte (2,30 mal 3 Meter) ist die gemalte Allegorie »Wissenschaft und Barmherzigkeit«, die, von dem 15jährigen Akademie-Schüler zur Madrider »National-Ausstellung der Schönen Künste« eingereicht, mit einer »ehrenvollen Erwähnung« honoriert worden war.

Das virtuos gemalte Stück zeigt eine Frau auf dem Krankenbett, daneben eine Nonne und einen Arzt, der eben den Puls der Siechen fühlt; er trägt die Züge von Picassos Vater.

Familienangehörige porträtierte der junge Picasso ebenso häufig wie seine Freunde -- so Sabartés oder den Maler Carlos Casagemas -- und sich selbst. Das Gesicht von Casagemas etwa benutzte er 1903 für sein Bild »Das Leben«, ein Hauptwerk seiner »Blauen Periode«, das in Cleveland hängt. Anfangs jedoch, so enthüllen die nun in Barcelona ausgestellten Entwürfe, war an dieser Stelle ein Selbstporträt geplant.

Das Bilder-Paket von 1917 enthält neben kubistischen Konstruktionen auch das -- unvollendete -- pointillistische Gemälde einer nach dem spanischen Wort für Wurst, das sie nicht aussprechen konnte, »Salchichona« genannten Französin.

Vor allem aber gibt die Sammlung von Barcelona, In sechsmonatiger Arbeit restauriert, einen lückenlosen Überblick über Picassos früheste Entwicklung. Sie belegt, wie der Student auch große Vorbilder aus der Kunstgeschichte -- Greco, Velazquez und Rembrandt -- nachahmte und neben Porträts, Akt-Darstellungen und Landschaften schon spätere Lieblingsmotive wie Tauben und Stierkämpfe im Repertoire hatte.

»Keiner kann sich heute ernsthaft mit Picassos Entwicklung beschäftigen«, sagt Barcelonas Kulturdezernent Luis de Sicart mit Recht, »ohne nach Barcelona zu kommen.«

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