THEATER / LA MAMA Große Freude
Die Mutter reicht dem lüsternen Dorf-Twen noch einmal die Brust, dann holt ihn der Henker. Sein Vergehen: Er hat ein Mädchen zuschanden geliebt. Ein anderer Dörfler ist nur seinem Hausschwein zugetan, doch auch er wird seines Liebens nicht lang froh -- der Tierfreund stirbt von Mörderhand.
Der Einakter »Futz« der amerikanischen Professoren-Gattin Rochelle Owens, 30, machte deutsche Theatergänger letzte Woche mit den Bizarrerien der bekanntesten Off-Off-Broadway-Bühne vertraut -- das New Yorker Avantgarde-Theater »La Mama« gastierte bei der Frankfurter Theaterwoche »Experimenta II« zum erstenmal in Deutschland.
Auf »ebenso artistische wie vulgäre Weise« ("Die Welt"), singend und kreischend, bibbernd und fauchend stellten die »Futz«-Figuren Begattungs-Möglichkeiten vor: im Duett, im Trio, abseits und in Gesellschaft, im Liegen und Stehen, sanft und mit Gewalt. »Das Stück behandelt«, sagt die »La Mama«-Chefin Ellen Stewart, »die Brutalisierung und Versklavung der Liebe in Amerika.«
Das Verkehrs-Chaos aus New York Vergleichbares kam bisher nicht auf deutsche Bühnen -- war das Unikum der »Experimenta«, die sonst eher Erprobtes bot:
Mit dem Agitpop-Musical »Gesang vom Lusitanischen Popanz« von Peter Weiss wies das Stockholmer Scala-Theater auf die Unterdrückung der Neger in den portugiesischen Kolonien hin (SPIEGEL 5/ 1967);
> der argentinische, in Deutschland lebende Komponist Mauricio Kagel gab Proben seines »Musikalischen Theaters«, in dem mit Akteuren statt nach Noten musiziert wird -- Kagel: »Das ist Komposition mit nichtklingendem Material«; > das Pariser »Grand Théâtre Panique« zeigte im »Labyrinth« des Sado-Dramatikers Fernando Arrabal einen wahnsinnigen Richter, der mit einer Ziege flirtet, und einen Gefangenen, der im Klosett verendet -- Regisseur Jerome Savary: »Unser Theater ist die Kirche von morgen«;
> im neuen Drama des Frankfurter Stückeschreibers ("Lappschiess") Hans Günter Michelsen, »Frau L«, erinnert sich eine alte Frau in Monologen und Pausen einer alten Frau, die sie selbst (nicht?) ist. Auch ein Provo-Stück der britischen Autorin ("Der gewisse Kniff") Ann Jellicoe, 39, hatte »Experimenta«-Premiere -- Titel: »Meine Mutter Macht Mist Mit Mir«. Die Dramatikerin benutzt darin jenen »sehr alten Mythos, in dem ein Mann, von seiner Mutter abgewiesen, sich selbst mit einem Steinmesser kastriert«. Das britische Bühnengastspiel dagegen, Peter Brooks antiamerikanische Vietnam-Collage »US« (SPIEGEL 44/1966), fiel aus -- Brook verzichtete wegen der 20 000 um Frankfurt stationierten GIs.
Was der Brite Brook vorenthielt, brachte die US-Bühne »La Mama« in drei weiteren Stücken selbst -- die brutale Welt der Pop-Sänger ("Melodrama Play« von Sam Shepard), die pasteurisierten amerikanischen Träume ("Times Square« von Leonard Mehl) und die Zweifel an amerikanischen Heroen ("Tom Paine« von Paul Foster). Denn »La Mama« beschreibt »das Unbehagen der jungen Generation an der sterilen Zivilisation Amerikas« -- so »La Mama«-Mutter Ellen Stewart.
Die attraktive Südstaaten-Negerin, von Profession ist sie Mode-Designer. hatte ihre Bühne 1962 in einer großen Wohnung im intellektuellen East Village aufgeschlagen: Sie wollte ihrem auf Regie versessenen Bruder und dessen Freund, dem gelernten Juristen und Freizeitdichter Paul Foster, einen Spielplatz anlegen.
Sie erwarb eine Kaffee-Maschine, stellte 75 Stühle auf und ließ ins Vereinsregister eintragen; »La Mama
experimental theater club, 122, 2nd avenue«. Der Klub hat inzwischen 2000 Besucher-Mitglieder, der Beitrag pro Kopf und Woche beträgt zwei Dollar, Kaffee wird während der Vorstellung gratis gereicht.
Die »Vitalität und Unternehmungslust«, die Amerikas Top-Dramatiker Edward Albee an den Dutzenden ähnlicher Avantgarde-Bühnen New Yorks bewundert, schlug im »La Mama« am effektvollsten zu Buch. Ellen Stewart hat bislang um die 130 Dramatiker entdeckt und an die 200 Stücke uraufführen lassen -- meist vom Genre des absurden, grausamen und sexzentrischen Theaters.
Denn das »La Mama« will vor allem jungen Stückeschreibern, die bei den Kommerzbühnen des Broadway (und« den halbkommerziellen Bühnen des Off-Broadway) keine Chance haben, eine Start-Rampe sein. Die stilistische oder weltanschauliche Richtung spielt für die Auswahl keine Rolle; Mißerfolg ist einkalkuliert und keine Tragödie -- die meist bei Film und TV tätigen Schauspieler treten umsonst auf.
Dennoch müssen sie auch bei Muttern hart proben -- fünf Stunden am Tag. Der Lohn: einige Tassen Kaffee. eine aufmerksame Presse und zuweilen eine Trophäe -- wie der geschätzte Kunstpreis 1966 der Brandeis University oder die Goldene Medaille der Theaterfestspiele Zagreb 1966.
Die Avantgardisten nehmen derweil die gewohnte Entwicklung -- sie werden Arrivierte. »La Mama«-Stücke haben den Weg zum Film und zu Profi-Bühnen gemacht, und einige Texte, so Paul Fosters »Balls« und Lanford Wilsons »No Trespassing«, werden jetzt in Deutschland verlegt.
Ellen Stewart, für die das Theater eine »große, ununterbrochene Freude« ist, will ihre Freude nicht unterbrechen. »In Paris«, sagt sie, »müssen wir auch ein Theater aufmachen.«