Schule Große Verwirrung
Sieben französische Volksschullehrer nahmen sich das Leben -- aus Verzweiflung. Einer von ihnen, Yvon Cremades, 35, schoß sich eine Kugel in den Kopf. Motiv: Er konnte die moderne Mathematik nicht kapieren.
Seit Herbst letzten Jahres ist die »Neue Mathematik« -- die auch bei vielen deutschen Eltern gefürchtete Mengenlehre, aber auch die sogenannte Gruppen- und Wahrscheinlichkeitstheorie -- Bestandteil aller französischen Lehrpläne. Vom Herbst dieses Jahres an soll das gleiche für die Bundesrepublik gelten.
Drastischer noch widerfährt nun den Franzosen, was auch in Westdeutschland in vielen Elternversammlungen Proteste verursachte, vor allem aber Denk-Krücken für die Erzieher zu Bestsellern geraten ließ: »Bei vielen Lehrern, Schülern und Eltern«, so konstatierte nun der französische Physik-Nobelpreisträger Alfred Kastler, »herrscht große Verwirrung.«
Aber nicht nur Kastler sprach von einem »Skandal«. Mehrere Kollegen kamen ihm zu Hilfe; der Physiker Louis Néel, gleichfalls Nobelpreisträger, protestierte sogar persönlich bei Frankreichs Staatschef Georges Pompidou gegen die Einführung der Neuen Mathematik.
Selten haben sich Frankreichs Spitzen-Mathematiker so echauffiert wie bei diesem Anlaß. Als die grauen Eminenzen der Rechenkunst in der ehrwürdigen Akademie der Wissenschaften das Für und Wider diskutierten, schrien sie sich so laut an, daß der Akademie-Präsident die Türen schließen ließ.
Nicht zufällig entbrannte der neue Religionskrieg um abstrakte Wahrheit in Frankreich. Unter dem Pseudonym Nicolas Bourbaki arbeitet ein Team anonymer französischer Wissenschaftler schon seit den dreißiger Jahren an dem Standardwerk der modernen Mathematik, dem Mammut-OEuvre »Elemente der Mathematik«, von dem bislang mehr als 30 Bände erschienen sind. Die Autoren der Mathe-Bibel des zwanzigsten Jahrhunderts unterwerfen sich selbst einem eisernen Gesetz: Wer 50 Jahre alt wird, scheidet aus.
Bourbakis Geist hat die Mathematik revolutioniert. Von der klassischen Geometrie der Griechen Euklid und Pythagoras, der klassischen Algebra der Araber im Mittelalter bis zur Entwicklung der Analysis durch die Philosophen des 17. Jahrhunderts ist ean Götze angebetet worden: die Zahl. Selbst in den raffiniertesten Verfeinerungen der höheren Mathematik -- partiellen Differential- und Integralgleichungen -- hat sich daran nichts geändert.
Wohl aber in der modernen, strukturellen Mathematik, deren Einmaleins die von dem in Petersburg geborenen Georg Cantor, Mathematik-Professor an der Universität Halle, Ende des vorigen Jahrhunderts entwickelte Mengen-Lehre ist: ein faszinierendes Gebäude mathematischer Logik, das mit ehrwürdigen Rechenregeln wenig gemein hat.
Nun aber meldeten sich, vor allem in Frankreich, die Kritiker: »Die Bourbaki-Hoffnung«, meint René Thom, einer der bekanntesten französischen Mathematiker, »daß mathematische Strukturen auf natürliche Art und Weise aus der Mengenhierarchie folgen, ist nur eine Illusion.« Und er karikierte eine der beliebten Schulbuch-Illustrationen: »Der Fuchs weiß, daß die Hennen im Hühnerstall sind und der Hühnerstall auf dem Bauernhof. Also sind die Hennen auf dem Bauernhof -- aber dazu braucht er keine Mengenlehre.«
Hauptsorge vieler Pädagogen ist es, daß der hohe Abstraktionsgrad der modernen Mathematik die Schüler vollends der großväterlichen Rechenkunst entwöhnen könnte. Die neuaufgenommenen Schüler der Pariser Eliteanstalt »Ecole polytechnique« -- in ihren Vorbereitungskursen auf moderne Mathematik getrimmt -- mußten beispielsweise Sonderstunden einlegen, weil sie die klassischen Rechenarten nicht beherrschten.
Die Kritiker berufen sich bei ihrer Ablehnung auf den Mitbegründer des Bourbaki-Teams, das Akademie-Mitglied Jean Alexandre Dieudonne, der einmal gelästert hatte: »Die Mathematiker, die aus Liebe zur Abstraktion abstrahieren, sind meist die mittelmäßigsten.«
Freilich: Die Alarmrufe gegen die Neue Mathematik kommen häufig von Physikern. wie den Nobelpreisträgern Kastler und Néel, besonders jedoch den Vertretern der Experimentalphysik. In ihrem Gebiet nämlich regiert nahezu ausschließlich die klassische Mathematik.
Zu Fürsprechern der neuen Trainingsform hingegen machen sich oft Soziologen, Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler. aber auch Biologen. Sie brauchen während ihres Studiums wenig analytische Geometrie und kaum Differential- und Integralrechnung, hantieren jedoch viel mit Wahrscheinlichkeitstheorie und Algebra. In der Industriebetriebslehre beispielsweise sind Optimierungsaufgaben durch lineares oder nicht-lineares Programmieren ohne Kenntnisse der zur linearen Algebra gehörenden Matrizentheorie nicht zu lösen.
Jedoch nicht nur die Anhänger der verschiedenen Wissenschaftsgebiete streiten sich um die Nützlichkeit moderner Mathematik. Größer noch sind die Differenzen über die Zielsetzung des mathematischen Unterrichts. Während die Traditionalisten ein Maximum an Vorkenntnissen verlangen, fordern die Reformer eine prinzipielle Schulung des logischen Denkvermögens.
Wesentlich simpler, aber kaum weniger einleuchtend beurteilte demgegenüber die französische Tageszeitung »Combat« die möglichen Ursachen der Résistance gegen die Mengenlehre -- und nahm die Reform in Schutz: »Es ist doch absurd, die moderne Mathematik zu verurteilen, bloß weil der Vater nicht mehr die Probleme lösen kann, die sein Sohn ihm stellt.«