THEATER / ZADEK Großer Angriff
Auf kahler Bühne tollt eine Riege junger Leute in Blue jeans und Miniröcken. Sie gackern und krähen, heulen wie Wölfe, stellen sich auf den Kopf, zucken orgiastisch, legen Hand an primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale und spielen Koitus.
Peter Zadek, der Bremer Klassiker-Herostrat, hat wieder zugeschlagen: Shakespeares »Maß für Maß«, von seiner Hand getroffen, ist nicht mehr zu erkennen.
Keß und kregel wie keine andere deutsche Bühne stürzt Bremens Theater gern das Alte und lockt neues Leben aus den Ruinen. Zadek, 41, und sein Bühnenbildner Wilfried Minks, 37, traben der Truppe voran.
Die beiden hatten Anfang 1964 schon Shakespeares Historien-Gobelin »Heinrich V.« der Gegenwart genähert. »Held Henry«, so der neue Titel, demontierte Heroentum in Weltkrieg-I-Monturen und mit den Pop-Gags aus Joan Littlewoods Antikriegs-Varieté »Oh, what a lovely war«.
Noch forscher notzüchtigten sie den deutschen Dichter Friedrich Schiller. »Die Räuber« waren knollige, borstige Buschklepper, die nicht aus den böhmischen Wäldern, sondern aus einem grellen Comic strip traten.
Beide Inszenierungen machten noch starke Konzessionen an bürgerliche Kunstbedürfnisse: Die Worte waren verständlich, und der Gang der Dinge blieb durchschaubar. Jetzt warf Zadek solche Fesseln ab: Die »Maß für Maß«-Dialoge steigerten sich in kreischende Paroxysmen, und die Handlung zerbarst in burleske und brutale Szenen-Scherben.
Denn Zadek inszenierte »rücksichtslos nur das, was beim Lesen von 'Maß für Maß' in der Phantasie geschieht«. Es ist häufig das gleiche, was andernorts schon auf der Bühne geschah - die Verbal-Räusche und terroristischen Rituale des ambulanten amerikanischen »Living Theatre« oder Peter Brooks Londoner Sex-Exerzitien im »Theater der Grausamkeit«.
»Maß für Maß«-Lektüre kann freilich Erinnerungen an diese Bühnen-Neuerer wecken, denn Shakespeares Drama, eines seiner obskursten, handelt umständlich von Willkür, Köpfen und Fleischesgier: Der Herzog eines sittenlosen Wien setzt einen Stellvertreter ein, der Gesetz und Moral wieder Achtung verschaffen soll; während der Herzog, als Mönch verkleidet, durch Wien wandelt, züchtigt der neue Herr mit scharfem Schwert, verfällt aber selbst sinnlichen Anfechtungen.
Für die Aufführung hatten die Bremer beim bayrischen Jungdramatiker Martin Sperr ("Jagdszenen aus Niederbayern") eine Neufassung bestellt. Sperr schrieb sie in knochentrockener Prosa, als »ernsthafte Übersetzung für eine ernsthafte Aufführung«, Zadek »fing ernsthaft an zu proben, aber dann habe ich alles umgeschmissen«.
Unzufrieden mit der »Kleinpsychologie«, geplagt vom Problem, »Naivität zu übersetzen«, suchte er nach »theatralischer Vergrößerung«. Aus diesem Ringen erwuchs das exzentrische Spektakel, das am vorletzten Wochenende Premiere hatte und der »Welt« als »neues Stadium totaler Bühnenkunst« imponierte.
Zadeks Wiener kommen schlenkernd auf die leere Bühne, die Minks nur mit einem bunten Glühlampen-Fries verziert hat. Sie hocken sich, wie zu einem Box-Match, im Kreise nieder, ein Dicker stellt sich als Herzog vor, zieht das Hemd aus, streift eine Kutte über und warnt die Nonne Isabella, »weil die Unsittlichkeit große Angriffe auf gutgebaute Körper macht«.
»Auf dem Theater können Dinge passieren«, sagt Zadek, »die sonst nicht passieren können« - auf einem Stuhl krakeelen zwei Darsteller wie zwei Hähne auf dem Mist, der Herzog wird an der Nase umhergeführt, und wenn Isabella den Stellvertreter überreden will, klettert sie ihm auf die Schulter.
Zadek läßt gegen den Text spielen, Pathos parodieren, Parterre-Akrobatik treiben, er führt Köpfen als Clownerie vor und komische Einlagen als bitterernste Tragödien. Er pendelt zwischen Brillanz und Billigkeit und schert schließlich völlig aus dem Shakespeare-Stück aus: Der Herzog wird umgebracht, eine Puff-Mutter namens Meier hüllt sich in seine Kutte, und in einer anarchistischen Schluß-Orgie flattert sie wie ein Vampir mordend umher.
Buhrufe und Beifall gingen paritätisch auf Zadek nieder. Applaus brandete auch während der Vorstellung - so nach dem Satz: »Das alles kommt mir sehr wirr vor und sieht dem Schwachsinn sehr ähnlich.«