NOBELPREIS Grünes Geheimnis
Der Saal war überfüllt. Im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin drängten sich weit über tausend Professoren, Doktoren und Studenten. Hinter dem Rednerpult stand einer der prominentesten deutschen Gelehrten: Professor Dr. Otto Warburg.
In selbstsicheren Sätzen faßte der »deutsche Nestor der Biochemie« die Ergebnisse jener Forschungsarbeiten zusammen, die ihn nach dem Kriege am meisten beschäftigt hatten. Seine Zuhörer hatten den Eindruck, daß ihm eine epochale Entdeckung gelungen sei. Warburg schien die »Photosynthese« enträtselt zu haben - das »grüne Geheimnis«, das allein die Pflanzen befähigt, Wasser, Kohlendioxyd und Sonnenenergie zu Zucker zu verarbeiten.
»Nicht ohne Stolz dürfen wir es aussprechen«, erklärte Warburg über seine Photosynthese-Forschungen, »daß auf diesem Gebiet Deutschland trotz Krieg und Zusammenbruch die Führung behalten hat.«
Indes, vier Jahre nach dem Festvortrag, den der berühmte Wissenschaftler 1957 auf der Hauptversammlung der »Gesellschaft Deutscher Chemiker« hielt, wurde der Chemie-Nobelpreis für Forschungen über die Photosynthese an einen anderen verliehen. Warburgs wissenschaftlicher Gegenspieler, der 50jährige Chemie-Professor Dr. Melvin Calvin von der kalifornischen Universität Berkeley, wird Anfang nächsten Monats die begehrte Gelehrten-Trophäe vom Schwedenkönig Gustaf VI. Adolf in Empfang nehmen.
Vor aller Welt verwarf das Nobelpreiskomitee den Führungsanspruch, den Warburg für die deutsche Wissenschaft erhoben hatte. Zugleich wurde durch die Nobel-Entscheidung offenbar, was bis, dahin nur einige Fachgelehrte gewußt hatten: Während der 78jährige Warburg in der. Bundesrepublik noch immer als der geniale Wissenschaftler galt, der er in früheren Jahren gewesen war und dem vor genau 30 Jahren der Medizin-Nobelpreis (für seine Entdeckung der sogenannten Atmungsfermente in den Zellen) zuerkannt würde, hatte sich der Forscher mit seinen jüngsten Arbeiten von den Photosynthese-Experten völlig isoliert.
Der wissenschaftliche Streit zwischen Warburg und Calvin war auf einem Forschungsgebiet entbrannt, das größte Bedeutung für die Ernährung der schnell wachsenden Menschheit erlangen könnte. Viele Forscher hoffen, daß es nach vollständiger Aufklärung der Photosynthese möglich sein wird, vollwertige Nahrungsmittel für hungernde Völker in beliebiger Menge herzustellen.
Darüber hinaus suchen die Photosynthese-Forscher einen Vorgang zu ergründen, der die Voraussetzung allen Lebens auf der Erde ist. Denn nicht nur die Pflanzen, auch sämtliche Tiere und der Mensch beziehen die Energie für die Lebensvorgänge ausschließlich aus dem Photosynthese-Zucker. Um leben zu können, muß ein Tier entweder Pflanzen oder aber andere Tiere fressen, die sich ihrerseits von Pflanzen ernähren. Auch die Nahrungsmittel des Menschen stammen entweder von Pflanzen oder von Tieren.
Die zahlreichen chemischen Prozesse im Körper von Pflanze, Tier und Mensch werden durch Energie ermöglicht, die beim Abbau von Zucker frei geworden ist. »Ohne diesen Zucker«, so formulierte der britische Chemiker Donnan, »gäbe es keinen Gedanken, keine zarten Shakespeare-Sonette, keine Freude und keinen Schmerz.«
Mehr noch: Auch die Industrie bedient sich weitgehend der von Pflanzen eingefangenen Sonnenenergie. Kohle und Erdöl entstanden im Laufe von Jahrmillionen aus Photosynthese-Produkten urweltlicher Pflanzen.
Die überragende Bedeutung der Photosynthese für alles Leben auf der Erde erkannte als erster der deutsche Physiker Julius Robert von Mayer (1814 bis 1878). »Die Natur hat sich die Aufgabe gestellt«, schrieb Mayer, der Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, »das der Erde zuströmende Licht im Fluge zu erhaschen und die beweglichste aller Kräfte, in starre Form umgewandelt, aufzuspeichern.« Zu diesem Zweck habe sich die Erdkruste mit Pflanzen überzogen, die »ein Reservoir bilden, in welchem die flüchtigen Sonnenstrahlen fixiert und zur Nutznießung geschickt niedergelegt werden«.
Wie geschickt die Pflanzen die Sonnenenergie ausnutzen, darüber hatte Mayer freilich noch keine genaue Vorstellung. Gerade diese Aufgabe, die Frage nach dem Wirkungsgrad der Photosynthese zu beantworten, stellte sich der Garde-Kavallerieleutnant der Reserve Otto Warburg, als er nach dem Ersten Weltkrieg an seinen Arbeitsplatz im Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem zurückkehrte.
1922 erregten Warburgs Energiemessungen das Aufsehen der Botaniker. Denn der Forscher hatte ermittelt, daß der Wirkungsgrad bei der Umwandlung von Sonnenenergie in chemische Energie etwa 70 Prozent betrage. Das war ein wesentlich besserer Nutzeffekt für die Umwandlung einer Energie-Art in eine andere, als sie die Techniker erreicht hatten (Wirkungsgrad der Dampfmaschine: 10 bis 20 Prozent, des Benzin-Motors: 25 bis 33 Prozent).
Warburg wandte sich nun dem entgegengesetzten biochemischen Vorgang zu: dem Abbau des Zuckers in den Zellen - der Zell-Atmung. Er empfing für diese Forschungen den Nobelpreis und wurde Herr eines eigenen Instituts, des Kaiser-Wilhelm-Instituts (heute Max-Planck-Institut) für Zellphysiologie in Berlin-Dahlem; er führte eine große Zahl brillanter biochemischer Untersuchungen durch und stellte eine Theorie der Krebsentstehung auf, die noch heute von zahlreichen Wissenschaftlern vertreten wird.
Seine Photosynthese-Messungen blieben 15 Jahre lang unangefochten. Seit 1938 jedoch äußerten amerikanische Forscher Zweifel an der Richtigkeit von Warburgs Ergebnissen. Die Amerikaner reklamierten, sie hätten einen wesentlich geringeren Nutzeffekt bei der Umwandlung der Sonnenenergie in chemische Energie gefunden.
Warburg konnte auf die Einwände damals nicht antworten: Er ist Jude. Zwar durfte er weiter in seinem Institut arbeiten, aber die NS-Regierung hatte ihm verboten, wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen. Bald nach dem Krieg machte sich Warburg erneut an Untersuchungen über den Wirkungsgrad der Photosynthese.
Das Ergebnis dieser Messungen veröffentlichte er 1950. Die neuen Befunde verblüfften die Forscher noch mehr als Warburgs Beobachtungen im Jahr 1922: Warburg hatte nunmehr nicht nur eine Ausnutzung des Lichts durch seine Versuchspflanzen von 70 Prozent, sondern von 90 Prozent gefunden.
Amerikanische Photosynthese-Forscher bildeten jetzt eine breite Front gegen Warburg. Ein Streit über Versuchsanordnungen, Meßverfahren und theoretische Erwägungen entbrannte. Die Meinungsverschiedenheiten erreichten, so klagte 1954 eine amerikanische Forschergruppe in »Annual Review of Plant Physiology«, einem jährlich erscheinenden Überblick über die Fortschritte der Pflanzenphysiologie, »ein Stadium, wo sie eine Wissenschaft für sich darstellen«.
In diesen Streit griff Professor Melvin Calvin in Berkeley erst später ein. Er hatte sich nach dem Krieg das Ziel gesetzt, die komplizierten chemischen Vorgänge zu ergründen, die sich in den Pflanzenzellen beim Aufbau des Zuckers abspielen.
Auch er mußte sich schließlich, nach jahrelanger Forschungsarbeit, mit dem (physikalischen) Energieproblem auseinandersetzen. Seine Ergebnisse ließen nur eine Deutung zu: Sie sprachen für die Befunde seiner amerikanischen Kollegen und gegen die Ansicht Warburgs.
Der beutsche trotzte und tat ein übriges: Er verwarf nun andere Ergebnisse der Photosynthese-Forschung, die seit langem als völlig gesichert galten. Und er stellte statt dessen Theorien auf, die insbesondere deutsche Fachgelehrte zunehmend in Verlegenheit setzten.
Jahrelang konnte sich in den jährlich erscheinenden »Fortschritten der Botanik« der Referent für Photosynthese -Forschung, der Göttinger Ordinarius Professor Dr. André Pirson, durch allgemein gehaltene Bemerkungen der peinlichen Aufgabe entziehen, die Alterswerke des deutschen Nobelpreisträgers öffentlich zu zerrupfen.
Eine detaillierte Stellungnahme ließ sich jedoch nicht länger umgehen, als im vergangenen Jahr Band 5 (Thema: Photosynthese) des 18bändigen »Handbuches der Pflanzenphysiologie« herausgegeben wurde, eines aufwendigen, teils von deutschen, teils von ausländischen Gelehrten bearbeiteten Standardwerks.
Noch einmal hatten die deutschen Herausgeber versucht, Warburg die Demütigung zu ersparen: Er sollte im Handbuch selbst die umstrittenen Ergebnisse beschreiben. Doch der Plan scheiterte. Warburg wollte nicht.
Der amerikanische Wissenschaftler Dr. Bessel Kok aus Baltimore sprach nun in dem repräsentativen Handbuch das Urteil über etwa 30 Nachkriegsarbeiten des Photosynthese-Forschers.
Warburg und seine Mitarbeiter verträten, schrieb Kok unumwunden, »recht seltsame Ansichten von der Photosynthese - unter mehr oder weniger vollständiger Mißachtung aller Informationen, die außerhalb des Dahlemer Laboratoriums gesammelt worden sind«. Überall in den Arbeiten des Max -Planck-Instituts stoße man auf »wechselnde Ansichten, widerspruchsvolle Angaben und methodische Fallgruben«.
So hatte das Nobelpreiskomitee freie Hand, in diesem Jahr dem Amerikaner Calvin den verdienten Nobelpreis zu verleihen. Über den Anspruch des Deutschen Warburg, die »wichtigste Entdeckung auf dem Gebiet der Photosynthese seit 150 Jahren« gemacht zu haben, setzten sich die Preisrichter ohne Diskussion hinweg.
Deutscher Forscher Warburg
Führung verloren
Amerikanischer Forscher Calvin
Nobelpreis gewonnen