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MUSEEN Gucklöcher zum Olymp

Weimars Klassiker, neu gesehen: Das völlig umgebaute Goethe-Nationalmuseum zeigt zur Wiedereröffnung eine gewitzte, repräsentative Literatur-Ausstellung.
aus DER SPIEGEL 17/1999

Von außen ist dem Gebäude nichts anzumerken. Wie seit vielen Jahrzehnten duckt sich die mattgelbe Fassade links ins Eck, schmucklos neben der gravitätischen Goethehaus-Front am Weimarer Frauenplan. Erst wer vom kommenden Wochenende an durch die Holztür tritt, kann sehen, daß dahinter nahezu alles anders geworden ist, als es zu DDR-Zeiten war - auferstanden aus Ruinen gewissermaßen, ein zweites Mal.

Immerhin 18 Millionen Mark hat gekostet, was hinter dem unscheinbaren Eingang an- und umgebaut worden ist. Es geht da nicht nur, rechter Hand, zum Haus, in dem Goethe seit 1792 arbeitete, Verehrer empfing, Sammlungen hortete, von Dienstboten umsorgt wurde und 1832 starb, sondern auch, links durch die Halle, in ein Museum, das von Anfang an signalisiert: Hier werden kulturelle Gipfelzonen betreten.

Schwungvoll leitet ein freistehendes Treppenoval hinan, und dann, im eigentlichen Museumstrakt, geht es erst recht empor.

* Zeichnung von Johann Joseph Schmeller.

Wie eine Rampe zum Olymp haben die Berliner Architekten Günther Fischer und Ludwig Fromm längs durch den ganzen Bau eine Treppen-Kaskade gelegt, die beide Stockwerke verbindet.

Am Ende des Rundgangs erlaubt ein Kabinett einen souveränen Rückblick: Das also ist deutsche Klassik, so haben sie gelebt, gestritten, gelitten, gedacht und gedichtet, Goethe und seine Kollegen. Denn nicht allein der Geheime Rat, dessen Werdegang hier einst schulklassengerecht vorgeführt wurde, ist Hauptperson dieser Räume. In der neuen Schau, die vom Manuskript bis zum künstlichen Schädel aus Elfenbein, vom Damenfächer bis zur kompletten vergoldeten Theater-Rüstung geistiges Leben am Objekt zeigt, hat jeder Abschnitt einen eigenen, ungewohnten Helden.

Museumsleiter Gerhard Schuster, 42, und sein Team, die erst seit Anfang vergangenen Jahres an der neuen Dauer-Präsentation von etwa 800 Ausstellungsstücken arbeiten, sprechen flapsig von »Bushaltestellen": Man nehme eine weniger prominente Figur aus dem klassischen Weimar, spüre ihren Interessen und Kontakten nach - schon schimmert eine jeweils ganz eigene Facette an den Großdichtern auf, die sonst allzu monoton gefeiert werden.

Johann Caspar Lavater mit seinen Silhouettenporträts oder das kauzige, scharfzüngige Hoffräulein Louise von Göchhausen; Goethes »Urfreund« Karl Ludwig von Knebel oder Weimars Klatschmaul, der Journalist und Antikenfachmann Karl August Böttiger - sie alle spiegeln durch ihre Zeugnisse ein geistiges Leben, das ohnehin niemals insgesamt sichtbar werden könnte.

Immerhin beginnt der Vitrinenpark mit dem Bild der Herrscherin, die an fast allem Klassischen aus der großen Zeit des winzigen Fürstentums schuld ist: In feiner Terrakotta steht das Porträt Anna Amalias von Sachsen-Weimar und Eisenach neben der Büste ihres großen Onkels, des Alten Fritz.

Nach dem Vorbild Berlins, wo der Preußenkönig den Schöngeist Voltaire an seinen Hof zog, stellte seine Nichte den »deutschen Voltaire« Christoph Martin Wieland aus Schwaben als Erzieher für ihren Sohn Carl August an. Der holte 1775 Goethe nach Weimar; Goethe wiederum vermittelte schon 1776 seinen Straßburger Mentor, den bärbeißigen, hochgelehrten Prediger Johann Gottfried Herder als Superintendenten. Und 1794 verbündete er sich mit Friedrich Schiller, der dann 1799 von Jena an die Ilm zog.

Die geistige Enge im Stadtdorf von nicht einmal 10 000 Einwohnern war mitunter produktiv, aber oft drückte sie auch. Charlotte von Stein, Goethes Weimarer Vertraute, rettete nur dank kühner Privatdiplomatie ein paar Jahre lang ihre Liaison mit dem Minister-Dichter. Wenige ausgewählte Erinnerungsstücke deuten an, auf welch eisigem Fuß die kluge Dame alltags mit ihrem ziemlich grob gestrickten Gemahl Josias von Stein zusammenlebte: ein Marmorfaksimile ihrer Hand, das Hochzeits-Kniekissen und zwei Porzellanreliefs der Eheleute, voneinander abgewandt.

Für solch spielerische Effekte hat Schuster eine Vorliebe. Da steht auf einem Tisch links von einer Batterie lebensgroßer Büsten des Weimarer Fürstenhauses und seiner Verbündeten ein nur daumengroßer goldener Napoleon. Aus einem Glaspfeiler, der mit Thüringens Erdschichten gefüllt ist, sprießt das Bryophyllum calycinum, das »Brutblatt«, jenes Gewächs, in dem der Urpflanzen-Denker Goethe eine Bestätigung seiner Forschungen sah.

Wenige Meter entfernt scheint eine seltsam fleckige Büste gedankenvoll in ein aufgeschlagenes Buch zu blicken: in das Kunstgeschichtswerk des Weimarer Zeichenlehrers Johann Heinrich Meyer, der Goethe jahrelang beriet, wenn Wettbewerbe für bildnerische Arbeiten auszuschreiben waren. Der Kopf des Griechenhelden Diomedes, einst Modell in Meyers Zeichenschule, besteht aus Pappmaché; deutlich ist zu erkennen, daß zermanschte alte Rechnungen für die Studierplastik herhalten mußten. Brüche und Hintersinn überall.

»Wir wollen keine Hagiographie oder Kanonisierung veranstalten«, sagt Schuster. »Das ist hier kein Kursus, sondern ein Angebot.« Allerdings ein so raffiniertes, daß selbst Experten staunen. Ein vor kur-zem aufgetauchtes Porträt des alten Dichterfürsten Goethe, das Johann Joseph Schmeller vermutlich um 1829 gezeichnet hat, zählt dazu, ein ausgestopftes Krokodil aus Goethes Sammlung, aber auch ein bizarrer Schreibtisch in der Größe eines Zigarrenkistchens: Es ist eine präzise Nachbildung von Schillers Weimarer Sekretär, in die ein leicht spinnerter früherer Besitzer des Originals ein Stück der echten Schreibunterlage eingeklebt hat.

Am schwersten ließ sich das »Haltestellen«-Prinzip in der Illustration von Goethes Italienreise durchhalten. Von jener Römerin, die Goethe nach neuen Forschungen geliebt haben dürfte, ist nicht mal der Name gesichert. Getreu den dichterisch verbrämten »Römischen Elegien«, wo der Poet ihr fröhlich im Bett die Hexameter auf den nackten Rücken klopft, steht nun über dem Raum: »Faustina sorgt für den Text.«

Was das heißt, müssen Fundstücke symbolisieren: zwei wohl in Rom gekaufte Plastiken, darunter ein kräftig obszönes Figürchen des Phallusgottes Priapos, die in Italien überarbeiteten acht Bände von Goethes erster Werkausgabe und ein Palmwedel, zur Konservierung auf ein Zeitungsblatt geklebt - spärliche, kryptische Überreste denkerischer, sexueller und schöpferischer Offenbarungen.

Wird dem Betrachter da nicht ein bißchen viel zugemutet? »Im Prinzip vielleicht«, gesteht Schuster. »Aber es wird ja von niemandem verlangt, daß er gleich das ganze Büfett leer essen muß.« Lieber soll

* Von Herzogin Anna Amalia und dem Alten Fritz.

der Betrachter immer wieder neue Streifzüge ins Besondere unternehmen.

Den Palmwedel aus Rom etwa verdeckt eine Sichtblende so, daß erst beim Herantreten klar wird, worum es sich handelt. Auf die Spitze treibt es der Schlußraum mit dem Titel »Goethe begräbt sein Zeitalter«. Ringsum an den Wänden ruhen in Schaukästen Denkmünzen, Reliquien, das Exemplar der »Reisebilder«, das Heinrich Heine 1826 mit Widmung an Goethe sandte, ja sogar ein kleiner lederbezogener Kasten, auf dem steht: »Schlüssel zu Goethes Sarg«. Aber nur durch Gucklöcher sind die stillen Andenken den Blicken zugänglich.

Im Marbacher Schiller-Nationalmuseum, wo Schuster seine Gesellenjahre verbracht hat und auf das er sich gern als auf sein Vorbild beruft, gibt es solch neckische Inszenierungen nicht. Aber auch für Weimar gilt: Keines der Exponate stammt aus fremden Beständen, und es sind so gut wie keine Nachbildungen zu sehen. »Fotokopierte Handschriften von überall her und nachgeschneiderte Theaterfräcke« wie früher, damit würden die Vitrinen zur Kulissenwelt, sagt Schuster. »Was hier zu sehen ist, soll Aura haben, darum muß es auch echt sein.«

Mühelos hat er diese Maßstäbe nicht durchsetzen können. Das Erfurter Ministerium, dem offenbar gerade im Kulturstadt-Jahr funkelnde Events mehr gelten als Weitblick, hätte die Ausstellung am liebsten im Februar oder noch früher eröffnet. Doch längst war klar: Weder der von einigen Planungspannen (etwa überhitzungsgefährdeten Wandschaukästen) zurückgeworfene Museumsbau noch die zwei prall bebilderten Katalogbände mit ihren mehr als 1000 Seiten wären in ausreichender Qualität fertig geworden.

Wegen der angeblichen Verzögerung darf Schuster bislang noch immer nur als »kommissarischer Direktor« amtieren. Doch nun, bei der Eröffnung, wollen alle Beteiligten die Qualen und Querelen möglichst rasch vergessen.

Das wird angesichts dieser klug konzipierten Schau nicht schwerfallen. Schuster jedenfalls plant schon, wie das gewaltige Kabinett des Einzigartigen fachkundig mit Führungen und Vorträgen »bespielt« werden kann. Leicht nimmt er auch den kommenden Anbruch der Normalität nicht: »Man sollte das Publikum nie unterschätzen.« JOHANNES SALTZWEDEL

* Zeichnung von Johann Joseph Schmeller.* Von Herzogin Anna Amalia und dem Alten Fritz.

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