MALEREI / MATISSE Guter Lehnstuhl
Sein Werk-Katalog nennt nur banale Sujets; sein Einfluß auf die Kunst kennt dennoch keine Grenzen: Mit Bildern, Zeichnungen, Graphik und Scherenschnitt-Collagen von Landschaften, Obst-Schalen, Blumenarrangements und pompösen Interieurs, von herausgeputzten Bürgersfrauen und üppig ausgeformten Nackten behauptet der Franzose Henri-Emile-Benoit Matisse (1869 bis 1954) seinen Rang als wichtigster Revolutionär der modernen Malerei.
Nicht Kandinsky und nicht Wols, nicht Paul Klee und schon gar nicht der große Einzelgänger Picasso haben das Erbe des genialen Anregers Cézanne angetreten -- Henri Matisse vielmehr, der Jurist aus dem nordfranzösischen Cateau-Cambrésis, ist »le plus grand de tous«.
Als diesen Größten von allen erkannte ihn der kaum minder bedeutsame Dada-Erneuerer Marcel Duchamp (1887 bis 1968); als Künder einer »revolutionären Lehre« ehrt ihn nun zum 100. Geburtstag (Silvester 1969) auch die Grande Nation -- mit der größten Matisse-Retrospektive, die es je gegeben hat:
Im weitläufigen »Grand-Palais«, jenem Pariser Weltausstellungspalast, den der damalige Maler-Gehilfe Matisse im Jahre 1900 mit einem Fries verzieren half, dokumentieren jetzt rund 250 kostbare Arbeiten (Versicherungswert: 300 Millionen Franc) aus allen Schaffensperioden des Meisters seinen Einfluß auf die aktuellen Stilrichtungen Tachismus, Neo-Konstruktivismus, Pop Art und Environment.
Und von solchen Ausstrahlungen des Matisse-Xuvres hatten selbst die Franzosen, die nur wenige Hauptwerke in ihren Museen vorweisen können, kaum etwas gewußt. »Wir sind glücklich darüber, feststellen zu können', notierte 1910 ein Pariser Kritiker, »daß sich unter seinen Schülern und aktiven Bewunderern keine Franzosen, sondern nur Russen, Polen und Amerikaner finden.«
Seine größten Werke wurden tatsächlich im Ausland gesammelt, und so konnte der Maler mit dem rötlichen Vollbart, der »eher wie ein deutscher Professor aussah« ("The New York Times"), für die Franzosen ein scheinbar unproblematischer Dekorateur bleiben, der sein Talent an Belanglosigkeiten verschwendete.
Er reiste gern in sonnige Gegenden so nach Korsika, Marokko und Tahiti -, umgab sich mit exotischen Vögeln, persischen Kacheln und adligen Modellen, spielte Violine und ließ sich auch durch zwei Weltkriege nicht von der Riviera vertreiben.
»Man muß entweder malen oder in die Welt hinausgehen -- beides zugleich kann man nicht tun«, pflegte er sein politisches Desinteresse zu entschuldigen.
Nein, ein »Guernica« -Memorial war von Matisse nicht zu erwarten; allenfalls in apollinischen Gegen-Bildern drückte er seine Gefühle für die Opfer aus, und statt der disharmonischen Welt veränderte er lieber seinen stets auf »Gesamtharmonie« bedachten Stil.
Und darin war Matisse, dieser fleißige Kunst-Handwerker, der mehr als 1000 Gemälde hinterlassen hat, noch versierter als sein jahrzehntelang im kubistischen Dogma befangener Antipode Picasso, mit dem er bisweilen Bilder austauschte.
Matisse, anfangs nur seinem Ideal Giotto, Vorlagen aus dem Louvre und seinen Freunden Marquet, Derain und Signac verpflichtet, experimentierte mit Impressionistischen Tupfen-Bildern, expressiven Akten, die Deutschlands »Brücke«-Maler inspirierten, scheinbar chaotischen Farb- und Pinselorgien ("Frau mit Hut«, 1905), die Ihn sogleich zum Haupt der »Fauves«-Bewegung und zum Präzeptor aller Tachisten der fünfziger Jahre machten; je nach Stimmung malte er auch abstrakt.
Sein Ziel: »Eine Harmonie analog der einer musikalischen Komposition.« Um sie zu erreichen, hörte der Schüler Moreaus auf, »die Natur sklavisch nachzuahmen«, machte er die »Konzeption«, den »Geist des Bildes«, zu seinem einzigen Prinzip, hielt er ein für allemal fest, daß unabhängig vom weltanschaulichen Engagement eines Künstlers für den »Ausdruck« eines Bildes nur die »Reinheit der Mittel« zählt.
Diese neue Ästhetik, eine Absage an den angestrebten Realismus der Renaissance und eine gewiß voreilige Distanzierung von den Anti-Kunst-Lehren Marcel Duchamps, hat Matisse in seinen besten Jahren (etwa 1905 bis 1916) so radikal wie kein anderer verwirklicht, und das »mit den einfachsten Mitteln, die dem Maler am besten gestatten, sich auszudrücken«.
Mit kühn verformten Akten und symmetrisch komponierten Porträts, mit wuchernden Ornamenten, die selbst die menschliche Figur zur Arabeske stilisieren, und mit stets widernatürlicher Farbgebung hat Matisse die Priorität der Malmittel über die Natur-Vorlagen demonstriert.
Mit Bildern, auf denen die abgebildeten Figuren und Gegenstände mit den Farben des Hintergrundes verschmelzen ("Italienerin«, 1915), mit riskanten Bildausschnitten und konturlosen Farbformen hat er die Autonomie der Farbe über die dargestellten Objekte betont und die Leinwand zum alleinigen Aktionsfeld für das »gleichsam religiöse« Lebensgefühl des Malers bestimmt.
Und von diesen »Forschungen« (Matisse), die drei Jahre vor dem Tod des Künstlers im Gesamtkunstwerk der von Matisse mit Glasfenstern, Kruzifix, Posamenten und Meßgewändern ausgestatteten Dominikaner-Kapelle »du Rosaire« in Vence ihren Höhepunkt erreichten, profitieren heute selbst die Pop-Maler -- so etwa der Amerikaner Tom Wesselmann, der »große amerikanische Akte« á la Matisse entworfen hat.
Um diesen Profit zu mehren und das Matisse-Bild der siebziger Jahre vom Odium des festlichen Dekorateurs (der er unter anderem auch gewesen ist) zu befreien, wetteiferten jetzt Kommunisten und Kapitalisten mit Leihgaben für die Pariser Hommage.
Der griechische Reeder Niarchos und der amerikanische Gouverneur Hockefeiler, der Filmregisseur Otto Preminger und der Maler Picasso trennten sich bis September von ihren besten Matisse-Malereien.
Das New Yorker Museum of Modern Art schickte sein »Rotes Studio« aus dem Jahre 1911. und die Museen in Moskau und Leningrad ließen -- mit 23 anderen Leihgaben aus dem gleich nach der Revolution verstaatlichten Besitz der Matisse-Mäzene Morosow und Schtschukin -- auch zwei Hauptwerke erstmals in den Westen fliegen: »Die Musik« und »Der Tanz« (beide aus dem Jahr 1910).
Und diese auf wenige Farben und Formen reduzierten Großformate. »mit dem blauesten Blau, dem Grün der Bäume und dem zuckenden Zinnober der Körper gemacht« (Matisse), sind zum Glanzpunkt der ganzen Ausstellung geworden.
Sie erfüllen den 1908 notierten Künstler-»Traum« von einer »Kunst voll Gleichgewicht, Reinheit, Ruhe ohne beunruhigende oder die Aufmerksamkeit beanspruchende Sujets ... ein geistiges Beruhigungsmittel, etwas Ähnliches wie ein guter Lehnstuhl, der von physischer Ermattung Erholung gewährt«.