PROTHESEN Halt in Gips
Eine Bohrmaschine hatte dem amerikanischen Ingenieur Ward B. Myers, 38, den rechten Fuß zerquetscht. Zwölfmal im Laufe eines Jahres operierten ihn die Chirurgen, um den verletzten Fuß zu retten - vergeblich. »Die Schmerzen«, klagte Myers, »klopfen einem den Verstand aus dem Leib.«
Schließlich trat eine Knochenmarkentzündung ein, und Myers' Bein mußte am Unterschenkel amputiert werden.
Bereits zwei Wochen später konnte der Ingenieur mit seiner Pflegerin die ersten vorsichtigen Tanzschritte probieren. Myers war nach einem neuartigen Amputationsverfahren behandelt worden, das gegenwärtig, wie die amerikanische Fachzeitschrift »Medical World News« mitteilt, in sechs großen US-Kliniken erfolgversprechend erprobt wird: Noch auf dem Operationstisch messen die Ärzte dem Patienten ein Ersatzbein an.
Drei bis zwölf Monate mußten bislang Beinamputierte liegen oder an Krücken humpeln, ehe der Stumpf abgeheilt war und eine Prothese angepaßt werden konnte. Infektionen und schmerzhafte Schwellungen, verursacht durch die Ansammlung von Gewebsflüssigkeit, verzögerten oft den Heilungsprozeß, deformierten den Stumpf und machten es schwierig, das Ersatzglied anzubringen.
Bei dem neuen Verfahren dagegen wird der Gliedstumpf, noch während der Patient in der Operationsnarkose liegt, für die »Sofortprothese« vorbereitet. Die vernähte Amputationswunde wird eingegipst und in den Boden der erstarrenden Gipshülse ein Aluminium-Sockel eingelegt. An diesen metallversteiften Gipssockel wird sodann - schon wenige Tage nach der Operation - ein verstellbarer Stelzfuß angeschraubt. Der Patient unternimmt die ersten Steh- und Gehversuche.
Der frühzeitige Gebrauch des Ersatzgliedes verursacht den Patienten keine oder nur geringe Schmerzen. Durch die eng anliegende Gipsmanschette werden Schwellungen und Entzündungen vermieden, und der Stumpf bewahrt zugleich eine prothesengünstige Form.
Auch die - früher wegen des langen Krankenlagers unvermeidliche - Rückbildung der Muskulatur und des Bindegewebes wird durch das Sofortprothesen-Training verhindert. Damit bleibt der Amputationsstumpf von einem schützenden Fleischpolster bedeckt, und seine Standfestigkeit auf der Prothese wird erhöht.
Als der polnische Chirurg Marian A. Weiss 1963 auf dem Orthopäden-Kongreß in Kopenhagen erstmals über die Erprobung der Sofortprothesen-Methode referierte, stieß er auf Skepsis. Inzwischen aber wird das Verfahren - sein Urheber ist ein französischer Arzt namens Michel Berlemont
- an zahlreichen US-Kliniken mit Erfolg praktiziert und weiterentwickelt.
Seit 1963 wurden mehr als 200 Amerikaner im Alter zwischen zwei und 82 Jahren nach der Sofort-Methode behandelt. Nach durchschnittlich drei bis sechs Wochen, in denen die Belastung der Prothese gradweise gesteigert wurde, hatten sie gelernt, das Kunstglied zu benutzen.
Selbst in schwierigen Fällen, bei Diabetikern und Kreislaufkranken, bewährte sich das Verfahren. So wurde es mit Erfolg bei einem 80jährigen Zuckerkranken angewandt, dessen Fußverletzung zu Wundbrand und schweren Venenentzündungen geführt hatte. Der Greis genas innerhalb von 26 Tagen und trägt seither, ohne Beschwerden, ein Aluminium-Kunstbein. Nur bei drei von 50 weiteren gefäßkranken Patienten in einer Klinik in Miami kam es zu Komplikationen.
Die orthopädische Schnell-Technik bietet überdies eine Reihe nützlicher Nebeneffekte. So vermeidet sie die - besonders für ältere Patienten - bei langem Krankenlager bestehende Gefahr einer Lungenentzündung. Zudem überwindet der Kranke durch das Sofort-Training sehr rasch das Gefühl der Hilflosigkeit, das bei der herkömmlichen Amputationsmethode oft die Patienten belastete und ihre Rückgliederung in die Gesellschaft erschwerte.
Besonderes Interesse an der Methode nahm inzwischen die US-Regierung; sie förderte die Entwicklung der neuen Prothesen-Technik durch eine Dollar -Spende. Grund: In großem Umfang soll das Verfahren demnächst in jenem Gebiet angewendet werden, in dem während der letzten Jahre 35 000 Menschen Gliedmaßen verloren und wo Granaten, Napalm-Bomben und Raketen täglich neue Opfer fordern - auf dem Kriegsschauplatz in Vietnam.
Prothesen-Patient Myers, Pflegerin
Tanz auf der Stelze