Nach Hanau Sie riefen in die Leere

Ein Gastbeitrag von Deniz Utlu
Jeder, der von Nazis ermordet wird, stirbt auch, weil der Staat versagt - und weil die Mitte der Gesellschaft nicht auf sich schaut. Horchen Sie in sich: Was geschah in Ihrem Herzen, als die Nachricht aus Hanau kam?
Niedergelegte Blumen am Tatort in Hanau

Niedergelegte Blumen am Tatort in Hanau

Foto: Andreas Arnold/ dpa
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Foto: Deniz Utlu

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, schreibt Romane und Essays und forscht zu Menschenrechten. Im September 2019 erschien sein zweiter Roman "Gegen Morgen" beim Suhrkamp Verlag. Sein Debütroman "Die Ungehaltenen" erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin "freitext" heraus. Am Maxim Gorki Theater Berlin kuratiert er die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse. Mehr unter denizutlu.de 

Es ist zu spät. Hanau ist kein Alarm, der jetzt irgendwen wachrütteln kann, sondern das, wozu es gekommen ist, weil die schrillen Alarmglocken der letzten Dekade nicht gehört wurden. Es ist zu spät, weil Menschen gestorben sind. Dafür gibt es keine Wiedergutmachung. Nicht heute, nicht morgen, niemals. Nichts kann sie zurückholen und keine Maßnahme, die die Politik jetzt trifft, kann etwas daran ändern.

Eine türkische Zeitung hat im Krankenhaus einen jungen Überlebenden interviewt, der sich als Muhammet vorstellt. Er erzählt, wie er an der Schulter getroffen wurde und auf einen anderen Verletzten gefallen ist, der aus dem Hals blutete. Er erzählt, wie sie ineinander verwoben lagen. Unter ihm einer. Auf ihm andere. Der mit der Schusswunde am Hals habe ihm gesagt: "Mein Bruder, ich spüre meine Zunge nicht mehr, ich kann nicht atmen, sprich das Gebet für mich."

Ich kannte das türkische Wort für Gebet nicht, das der junge Verwundete verwendet hat: Kelime-i şehadet. Ich habe mir das Video fünf Mal angeschaut, türkischsprachige Freunde angerufen, weil ich verstehen wollte, was er sagt. Er erzählt in dem Video, wie er und der Verletzte, auf dem er lag, gemeinsam aufriefen, das Gebet Kelime-i şehadet zu sprechen. Aber es kam keine Antwort. Sie riefen in die Leere. Alle anderen waren tot.

Wer als eine Möglichkeit zu trauern für diese Menschen jenes Gebet sprechen möchte, das sie sich in dieser Situation gewünscht haben: Die türkische Transkription des arabischen Verses, wie sie im Internet zu finden ist, lautet: "Eşhedü en la ilahe illallah ve eşhedü enne Muhammeden abdühü ve resulühü".

Das Mindeste ist es jetzt, den Familien der Verstorbenen Beistand zu leisten. Das bedeutet zu allererst - bitter, dass das gesagt werden muss – dass Politik, Behörden und Medien sie nicht schikanieren, so wie sie es jahrelang mit den Angehörigen der Opfer des NSU getan haben. Auf höchster staatlicher Ebene sollte es eine Beschwerdestelle für die Angehörigen geben, wo sie jede Diskriminierung und jedes Nicht-Zuhören, Nicht-Ernstnehmen, jede Ungeduld melden können, die Definitionshoheit über ihre Beschwerde behalten und sofort Abhilfe bekommen. Außerdem bedeutet Beistand politisch, dass es ihre Stimme sein muss, die jetzt zählt. Was immer sie zu sagen haben: Es gilt, ehrlich zuzuhören.

Das sind Dinge, die in einer solidarischen Gesellschaft selbstverständlich wären. Aber dies ist keine solidarische Gesellschaft, sondern eine, die niemals ernsthaft Interesse gezeigt hat, die faschistische Kontinuität in diesem Land abzubrechen.

Eine Gesellschaft, die Nazis, wo es geht, pathologisiert, ihre Gewalt herunterspielt, über jeden Gedenkstein für ihre Opfer, sei es Amadeu Antonio in Eberswalde, sei es Halit Yozgat in Kassel, verhandelt und den Hass und das Gewaltpotenzial immer bei anderen sieht: Bei "Anderen", die als "Fremde" diskursiv erst produziert werden und herhalten müssen für die Projektionen der Mehrheit. Das sind keine Fremden. Aber es ist ein Zeichen der eigenen Entfremdung, sie so zu sehen. Es ist alles schon gesagt: Dass der Rassismus tief in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und dass Nazis in diesem Land nicht aus dem Himmel gefallen sind.

Sie sind hier herangewachsen, haben hier einen rassistischen Nährboden gefunden, auf dem sie gedeihen konnten. Sie konnten und können hier in diesem Land jahrelang unbehelligt ein Leben im Untergrund fristen. Sich vernetzen sich untereinander, aber auch in der Polizei und Bundeswehr und im Verfassungsschutz.

War es ein Arbeitstag wie jeder andere auch?

Das ist alles bekannt. Und doch bleiben die NSU-Akten des Landesverfassungsschutzes in Hessen weiter unter Verschluss. Die sogenannten Demokraten machen spätestens seit der letzten Bundestagswahl rhetorische Fingerübungen, um zu lernen, mit Nazis zu reden, anstatt zu lernen, den Betroffenen zuzuhören. Nein, mit Blumen und Kerzen ist es nicht getan. Das Thema Rassismus ist die große, akute Staatsaufgabe. Der ganze Sicherheitsapparat muss darauf hinwirken, die Netzwerke der Nazis aufzudecken und denjenigen maximalen Schutz zu gewährleisten, die potenziell betroffen sind – was immer es an Ressourcen dafür braucht.

Jeder Mensch, der in diesem Land von Nazis ermordet wird, stirbt auch, weil der Staat seiner Schutzpflicht nicht ausreichend nachkommt und weil die Mitte der Gesellschaft nicht auf sich selbst schaut.

Jeder und jede Einzelne kann sich fragen: Was geschah im Herzen, als die Nachricht aus Hanau kam? Gar nichts? Etwas? Was genau? Gleichgültigkeit? Angst? Angst wovor? Wut? Wut worauf? Wer hat Empathie gespürt für die Getöteten und ihre Hinterbliebenen? Wer war schaulustig? Wer ungeduldig? Wer hat einfach nichts mitbekommen? Hat man im Büro darüber gesprochen, oder war es ein Arbeitstag wie jeder andere auch?

In der Bahn, in der ich gefahren bin, habe ich keinen Unterschied zu anderen Tagen gemerkt. Jeder kann sich befragen, was die Ermordung dieser Menschen mit ihm oder ihr gemacht hat. Und wenn es nichts macht, wenn diese Gesellschaft zu keiner ehrlichen Trauer fähig ist, dann können wir fragen, weshalb das so ist und nach unserer Menschlichkeit suchen. Einer der Betroffenen in Hanau sagte der Tagesschau: "Bei uns sagt man, wer einen Menschen mordet, tötet die ganze Menschheit."

Um ihn zu verstehen und weil die Fähigkeit zu trauern wie die Fähigkeit zu respektieren etwas ist, das erarbeitet und gelernt werden muss, habe ich nach dieser Redewendung gesucht. Ich habe herausgefunden, dass es sich um einen Vers aus der fünften Sure des Koran handelt – eine Sure, die sich auf den Brudermord Kains bezieht: "wer einen umbringt (…), so sei es, als habe er alle Menschen umgebracht, und wer nur einen am Leben erhält, so sei es, als habe er das Leben aller Menschen erhalten."

Die Morde des NSU, das Attentat von Hanau haben unserer Menschlichkeit etwas angetan. Dies ist keine solidarische Gesellschaft, aber vielleicht bleibt noch Zeit, dass sie solidarisch wird, dass dies zu einem Land der Schützenden wird und nicht der Mordenden.

Die Verstorbenen holt das nicht mehr zurück. Sie mögen in Frieden ruhen. Ich verneige mich vor ihren Angehörigen.

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