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VERLAGE / RECLAM Hat den Text

aus DER SPIEGEL 45/1967

Die revolutionärste Idee der Buchindustrie wird 100 Jahre alt. 1867 startete der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam jun. eine »Sammlung von Einzelausgaben allgemein beliebter Werke« -- die erste Taschenbuchreihe der Verlagsgeschichte.

Schon 1917 gab es Reclam-Bändchen per Selbstbedienung an 2000 Automaten zu kaufen -- in Bahnhöfen, Krankenhäusern und selbst auf den Atlantik-Passagierschiffen von Lloyd und Hapag.

Ihr Jubiläum gedenkt die Traditionsfirma so selbst- wie traditionsbewußt zu feiern. Am 10. November bittet Dr. Heinrich Reclam, 57, der Urenkel des Gründers und heutige Verlagschef, zum Festakt ins Kleine Haus der Württembergischen Staatstheater Stuttgart. Programmpunkte: Festrede des Schriftstellers und »Akzente«-Herausgebers Hans Bender, Aufführung von Lessings »Minna von Barnheim«. Unter den Gästen: Martin Heidegger.

In dem Jahrhundert seit ihrer Gründung gedieh die Reclam-Sammlung zur umfangreichsten Buchreihe und wohlfeilsten Bildungseinrichtung, die es je gab: »Reclams Universal-Bibliothek« zählt heute 9118 »Nummern« (1120 lieferbare Titel) mit einer Gesamtauflage von rund 400 Millionen.

Generationen deutschsprachiger Pennäler, Studenten, Bildungsbürger« Theatergänger« Schulmeister und Opernfans wuchsen mit Reclams kleinformatigen Bändchen auf. Was immer auf dem Stunden- und Theaterplan« im Hochschul- und Volkshochschulverzeichnis stehen mag: Reclam hat den Text dazu.

Ob Aischylos oder die Aufklärer, ob Cäsar oder Paul Claudel« ob Jaspers oder Ionesco, Heine oder Hesse, Tacitus oder Tucholsky -- in der wahrhaft universellen Universal-Bibliothek findet sich nahezu alles.

Eröffnet hatte -- am 10. November 1867 -- Anton Philipp Reclam seine bunte Reihe jedoch mit dem Prunkstück deutschen Bildungsbürgertums -- mit Goethes »Faust«. Am Tag vor der Verlagspremiere war für die Länder des Norddeutschen Bundes ein neues Urheberrecht in Kraft getreten, das die sogenannten Klassiker-Privilegien erlöschen ließ und die Werke »gemeinfrei« machte. Reclam nahm das Gesetz als Auftrag, die Dichter und Denker zum Gemeingut der Nation zu machen.

Jahrzehntelang hatte der einfallsreiche Verlagsherr, Sproß einer Familie aus dem französischen Savoyen und Sohn eines Buchhändlers, mit Bibeln und lateinischen Klassikern, mit Wörter- und Opernbüchern Auflagen und Geld gemacht. In der verlagseigenen Druckerei installierte er das damals neue Verfahren der Stereotypie und konnte damit hohe Druckauflagen konkurrenzlos schnell und preiswert liefern.

So produzierte er eine zwölfbändige Shakespeare-Ausgabe, warf sie zu einem sensationell niedrigen Preis auf den Markt und lernte dabei das Abc der Mengenkalkulation, das dem Leser günstigen Einkauf und dem Verlag Nachfrage bescherte.

Das Rezept paßte auch auf Reclams Universal-Bibliothek. 1878, elf Jahre nach ihrem Start, umfaßte sie schon 1000 Nummern, bei Anton Philipp Reclams Tod im Jahr 1896 waren es 3470. Insgesamt 49 Jahre lang behielt der Verlag nicht nur dieselbe typographische Aufmachung der Hefte, sondern auch den unveränderten Preis von 20 Pfennig je Nummer bei.

Erst im Kriegsjahr 1917, als zum Sturmgepäck deutscher Soldaten häufig auch Reclam-Bändchen gehörten, schlugen »Groschenreclams« Erben auf, ließen sie das Umschlagbild modernisieren und die Druckbogen stabiler binden. Was anfangs als unaufgeschnittene Broschur verkauft worden war, mauserte sich nun zum richtigen kleinen Buch.

Reclams Reihe »allgemein beliebter Werke« überdauerte sowohl die Inflation -- in der ein Reclam-Bändchen am Ende 330 Milliarden Papiermark kostete -- als auch das Dritte Reich, das allerdings die Universalität der Universal-Bibliothek durch die Streichung jüdischer und anderer verfemter Autoren empfindlich schmälerte.

Die Sowjets waren dem Unternehmen, das die klassische russische Literatur in Deutschland wesentlich gefördert hatte, jedoch allzu wohl gesonnen: Was der Zweite Weltkrieg in Leipzig übriggelassen hatte -- Setzmaschinen, Stereotypie, eigens für die Universal-Bibliothek konstruierte Rotations-Riesen und die Buchbinderei -, wurde demontiert und in 200 großen Kisten gen Osten geschafft.

Zwar wird auch heute in Leipzig wieder eine »Reclam Universal-Bibliothek« produziert, jedoch ohne die Einwilligung der Firmenerben. 1950 wurde der Leipziger Betrieb unter Verwaltung und Treuhandschaft der DDR-Behörden gestellt und der Verfügung und Einflußnahme der Inhaber entzogen.

1947 hatten Reclams Erben jedoch in Stuttgart eine Neuniederlassung gegründet. Von dort aus ließen sie 1952 die Einfuhr Leipziger Reclam-Buchware in den Westen verbieten. Dr. Heinrich Reclam: »Ein geraubter Name -- er gehört uns.«

Mit der gleichen Begründung erlaubt der Stuttgarter Verleger nicht, daß der Leipziger Reclam Verlag seine Produkte auf der alljährlichen Frankfurter Buchmesse ausstellt. Wie Heinrich Reclam berufen sich noch neun andere DDR-vertriebene Verleger auf das Messestatut, das Verlagsnamen-Räuber aussperrt. Drei andere weitdeutsche Verlage, die ursprünglich in der DDR ansässig waren, tolerieren dagegen ihre ostdeutschen Namensvettern auf der Buch-Schau.

In Stuttgart produzierten die Reclams inzwischen wieder 118 Millionen Bändchen mit 1120 Titeln -- nun allerdings für einen unübersichtlicher gewordenen, weil von einer Taschenbuch-Welle überfluteten Markt.

Auf ihm drängeln sich derzeit ungefähr 10 000 Titel von rund 40 Verlagen, und die meisten Taschenbücher sind großformatiger und besser ausgestattet als die Reclam-Bändchen. Sie freilich blieben an Preiswürdigkeit -- pro Nummer heute 90 Pfennig -- und als Jedermann-Bildungsbücherei unübertroffen.

Gelegentlich erscheinen Bände von Reclams Universal-Bibliothek sogar ohne Wissen und Zutun des Verlags. So im Zweiten Weltkrieg, als die Westmächte deutsche Landser mit Reclam-Heftchen versorgten, in denen Ratschläge zur Fahnenflucht und Kapitulation zu lesen waren. Und so nach dem bundesdeutschen Verbot der Kommunistischen Partei, als mehrere Nummern einer illegalen Schulungsschrift im Reclam-Gewand aus der DDR eingeschmuggelt wurden.

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