Hat die Schallplatte ausgespielt?
Am Anfang hießen sie Phonograph und Graphophon, Gourandphon und Photographophon. Und eine der Sprechmaschinen hieß auch Grammophon. Und das allein überlebte,
Die Walzen und Zylinder dieser Frühtöner sind längst vergessen: die Grammophon-Platte hat alle anderen Tonträger verdrängt.
Doch jetzt gerät sie selber in Bedrängnis: Das Tonband, bislang im Amateurbereich vorwiegend von HiFi-Fans und Fummlern benutzt, mausert sich neuerdings zur Platten-Konkurrenz, und zwar das Tonband in seiner kompaktesten Form -- als Musik-Kassette.
In den USA werden in diesem Jahr bereits fast doppelt so viele Bandgeräte verkauft wie Plattenspieler: in der Bundesrepublik wird deren Zahl 1971 allein von der Produktion an Kassetten-Recordern um das Dreifache übertroffen.
Dabei kam die Musik-Kassette erst vor sechs Jahren auf den Markt. Doch dieses neue Medium startete in unvermuteten Galopp und verdoppelte alljährlich seinen Umsatz. Optimistische Branchen-Prognosen, etwa bei »Musik 2000«, der Kassetten-Tochter der Deutschen Grammophon, verheißen bereits für 1975 ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Langspiel-Platte und Kassette.
Ganz so schnell freilich wird die Herrschaft der betagten schwarzen Scheiben wohl nicht ins Wanken geraten, dazu hat sich die »Weltmacht Schallplatte« (Disc-Historiker Curt Riess) in den über 80 Jahren ihrer Entwicklung allzu fest konsolidiert.
Zwei Vorzüge haben die Platte stets an der Spitze gehalten: der hohe Grad ihrer Standardisierung und ihre Aufnahmefähigkeit für alle Fortschritte, die vom blechernen Krächzer der Pionierzeit bis zum fulminanten HiFi-Sound der Gegenwart führten.
Tatsächlich konnte der konzeptionell längst anachronistische, gerillte Kunststoff-Teller bisher noch jeder technischen Verbesserung angepaßt werden: Aus der schnarrenden Eineinhalbminuten-Scheibe im Bierdeckelformat von 1890 entwickelte sich innerhalb weniger Jahre die klassische Schellackplatte, deren Standard fast sechs Jahrzehnte Geltung hatte. Nach dem Krieg kam die Revolution durch die unzerbrechliche, langsam rotierende Langspielplatte, die rund eine stunde tönt.
Vorläufig letzte Perfektionierung brachte der Stereo-Effekt, der ein räumliches Ton-Erlebnis illusioniert und zusammen mit HiFi-Qualität das heute optimale Hörvergnügen schafft. Und damit ist die Platte technisch noch immer nicht am Ende: Mehrere Verfahren, ihr auch die notwendigen Informationen für quadrophonische (vierkanalige) Rundum-Beschallung einzuritzen, sind bereits produktionsreif.
Einen Nachteil der Ton-Wiedergabe per Schallplatte freilich schafften alle Verfeinerungen nicht aus der Welt: Das generell unveränderte Prinzip, einen Abtaststift durch die Rillen rutschen zu lassen und so die Töne gleichsam abzukratzen, beschränkt das Verfahren auf den stationären Betrieb.
Denn jede Bewegung des Geräts läßt den je teureren, desto leichteren, feiner ausbalancierten Tonarm aus der Furche hopsen, unterbricht die Musik und kann Platte sowie Abtastsystem beschädigen. Für unterwegs, für Boot und Auto, ist das System ungeeignet -- Schallplatten-Musik ist nicht transportabel.
Den Produzenten der tönenden Konsumwaren machte das schon lange Pein: Immer in den sommerlichen Ferienmonaten sackte der Platten-Absatz weg.
Zwar versuchte der niederländische Elektro-Konzern Philips bereits Ende der fünfziger Jahre, ein flunderförmiges. vollautomatisches Plattenspiel-Köfferchen mit Batteriebetrieb zu lancieren, das zum Einbau in Autos und den Betrieb in Wald und Flur empfohlen wurde: Der Benutzer hatte lediglich die (17-Zentimeter-Single-)Platte in einen Schlitz zu schieben, dann blecherte das Gerät los und spuckte nach vollendeter Darbietung die Platte wieder aus. Doch der Erfolg des »Auto-Mignon« war gering.
Beim zweiten Anlauf dann entsannen sich die Philips-Leute des Magnetophonbandes. Freilich, das konventionelle Spulen-Tonbandgerät kam seiner Bedienungsanforderungen und seiner Normenvielfalt wegen (verschiedene Spulengrößen« Geschwindigkeiten, Spurlagen) als Ersatz für das volkstümliche »Medium ohne Grenzen« (Schallplatten-Werbung) nicht in Betracht. Gesucht wurde ein hochstandardisiertes, simpel zu handhabendes Massen-Medium. Das Ergebnis waren die Kassetten.
Und zugleich, nämlich 1965, erschienen die beiden wichtigsten Typen: die amerikanische Endlos-Kassette (Cartridge) und die europäische Compact- oder Musik-Kassette.
Gemeinsam ist beiden Erfindungen das Prinzip der Vereinfachung und der Miniaturisierung: Das Bandmaterial ist eingeschlossen in ein Kunststoffgehäuse. das mit einem Griff dem Kassetten-Recorder ein- oder ausgeklinkt werden kann.
Die amerikanische Version, speziell entwickelt für den Einbau ins Auto, benutzt ein Tonband von normaler Breite. Es wird nach dem Endlos-Prinzip von ein und derselben Spule auf- und abgewickelt und ist mit acht Tonspuren beschriftet, die bei der üblichen Stereo-Aufnahme paarweise abgetastet werden: Nach jedem Umlauf des Bandes unterbricht der Mechanismus kurz die Darbietung, weil dann die Tonköpfe eine Spur weiterrücken.
Zur endlosen Beschallung mit Unterhaltungsmusik ist dieses in den USA vorherrschende System ideal, ·seine Handhabung (reinstecken, Knopf drücken) problemlos. Für eigene Aufnahmen eignet sich die Endlos-Kassette freilich kaum: Sie läßt sich nämlich nicht zurückspulen, sondern läuft immerfort nur (mit 9,5 cm) in eine Richtung, was auch das Auffinden bestimmter Musikstücke auf einem Band erschwert.
Einige Nachteile der amerikanischen Achtspurkassette haben die Philips-Entwickler bei ihrer »MusiCassette« vermieden: Sie brachten in einem Plastikgehäuse, das mit einem Viertel des Cartridge-Volumens auskommt, zwei Spulen unter, die auch schnelles Umspulen in beide Richtungen zulassen.
Um die minimalen Abmessungen der Compact-Kassette zu erreichen, wurde die übliche Tonbandbreite halbiert und auch die vom amerikanischen Verfahren benutzte Bandgeschwindigkeit: auf 4,75 Zentimeter pro Sekunde. Dadurch vermag die Philips-Kassette bis zu zwei Stunden Stereo- Musik aufzunehmen, mithin soviel wie zwei Langspielplatten.
Aber die eigentlichen Vorzüge der »kleinen Dinger mit der großen Zukunft« ("Musik 2000«-Werbung) liegen in ihrer Vielseitigkeit: Sie eignen sich gleich gut als vorgefertigte Tonträger (also in Konkurrenz zur Schallplatte) wie als Medium für eigene Aufnahmen (also in Konkurrenz zum herkömmlichen Tonband).
Händler und Hersteller haben in den wenigen Jahren seit Einführung der Kassetten denn auch bereits deutliche Umwälzungen auf dem Markt feststellen können:
In den Schallplattenläden haben sich die kleinen Plastikpäckchen explosionsartig ausgebreitet, in vielen Läden nehmen sie schon die Hälfte des Ausstellungsraumes ein; in Hamburg etablierte sich ein erstes Kassetten-Spezialgeschäft.
Kaum ein HiFi-Hersteller produziert heute nicht auch Kassettenrecorder; das Modell-Angebot ist schon fast so groß wie das bei Plattenspielern oder Spulen-Tonhandgeräten; wer nicht schon auf dem Markt ist -- Renommierfirmen wie Braun oder Revox etwa -, der entwickelt doch bereits.
Audiophile Autofahrer, die längst einen Kassettenspieler im Wagen haben, beziffern Entfernungen inzwischen gern nach Musikstücken (Hamburg-Hannover gleich einmal »Fidelio"); an vielen Tankstellen werden bereits Kassetten verkauft, an Italiens Agip-Stationen sogar verliehen; selbst das Volkswagenwerk bietet neuerdings Kassettenrecorder und »VW-MusiCassetten« ("VW nach Noten") an; es gibt Sprachkurse, »Audio-Cassetten-Lernprogramme« für Manager und Verkäufer und tönende Baedeker für Reisende.
Schon jetzt werden in den USA 85 Prozent aller LPs auch in Kassettenversion geboten; und auch in der Bundesrepublik steigt der Kassettenanteil an Platten-Neuerscheinungen sprunghaft an. Vorn liegen die Schlager-Schatullen, aber auch schwerere Sachen werden von den Produzenten in Plastik gefüllt: »Wir haben den großen Beethoven kleingekriegt«, witzelt die Deutsche Grammophon, »auf 70 MusiCassetten.«
Über vier Millionen Kassettenrecorder (Preis: von unter 100 bis über 1000 Mark) gibt es inzwischen in der Bundesrepublik; ebensoviel bespielte Musik-Kassetten sollen allein in diesem Jahr erworben werden, dazu noch mal über doppelt soviel unbespielte. Fast 20 Prozent aller westdeutschen Haushalte sind bereits für das Kassetten-Zeitalter gerüstet, 1975 soll es jeder zweite sein.
ln vier Jahren soll jede Langspielplatte gleichzeitig als Kassette auf den Markt kommen: »Dann erst besteht ja Chancengleichheit«, frohlocken die Marketing-Manager beim Kassetten-Pionier Philips: »Und dann wollen wir doch mal sehen, was sich durchsetzt.«
Der Optimismus der Tonband-Partei ist verständlich, denn die Schallplatte ist ein anfällig Ding: Sie leidet unter Staub und Schmutz, unter direkter Berührung und unter Wärme; ihre Sauberhaltung erfordert umständliche Sorgfalt, dennoch sind Rausch- und Knistergeräusche fast unvermeidlich, und -- das Schlimmste -- die Schallplatte nutzt sich ab: »Wenn eine Platte dreimal gespielt ist« dann ist der Lack ab«. behauptet Philips-Ingenieur Hans Offer, und der Hamburger HiFi-Berater Norbert Braasch rät besonders anspruchsvollen, mäkligen Kunden gern maliziös: »Am besten spielen Sie jede neue Platte gleich auf Tonband und verschenken sie dann«
Tonband nämlich unterliegt keinem, jedenfalls keinem merklichen Verschleiß, das Band in der Kassette ist zudem auch gegen Staub, Beschädigung und derben Zugriff geschützt. Aber das konservierte Band hat auch einen gravierenden Nachteil: Die Tonqualität der Compact-Kassetten bleibt deutlich hinter der von guten Spulentonbändern und Schallplatten zurück.
Auf einer teuren Stereo-Anlage klingen Musik-Kassetten (hauptsächlich wegen der Schmalspur und der geringen Bandgeschwindigkeit) vergleichsweise dumpf und verrauscht, selbst UKW-Empfang bietet mehr Brillanz und Dynamik.
Aber dieser Mangel soll schon demnächst behoben werden: Die Industrie, die das neue Medium ja ursprünglich ohne jede HiFi-Ambitionen als Platten-Ersatz für die Sommerflaute auf den Markt gebracht hatte, will Geräte und Material so verbessern, daß der HiFi-Standard erreicht wird.
Auf dem Gebiet der hochwertigen Geräte, auf dem die deutschen Hersteller bislang bestenfalls mit Ankündigungen vertreten sind, wird sich vermutlich das sogenannte Dolby-(Noise Reduction) System durchsetzen -- ein im professionellen Bereich schon lange bewährtes Verfahren, das Bandrauschen zu unterdrücken und mehr Dynamik zu gewinnen. Die meisten japanischen und amerikanischen Spitzengeräte werden bereits »dolbysiert« angeboten.
Die Kassette selbst soll HiFi-fähig werden durch eine neue Beschichtung des Bandes: Das alte Eisenoxid-Band« vielfach verfeinert und schon jetzt von der Werbung gepriesen als »das Band, das Glas Zerspringen läßt« (Memorex) oder »so gut wie das Spulentonband« (Sony), soll abgelöst werden durch das doppelt so teure Chromdioxid-Band« das jetzt von Agfa-Gevaert und BASF auf den Markt gebracht worden ist.
Freilich, für das Chromdioxid-Band, das sich in Konkurrenz befindet mit einem ungefähr gleichwertigen Kobalt-Band ("High Energy") der renommierten amerikanischen Tonbandmarke Scotch, muß das Gerät mit einer Umschaltvorrichtung für andere Vormagnetisierung ausgerüstet sein; auch diese Verbesserung ist bereits realisiert -- bei Import-Geräten.
Diese Spitzenprodukte, betrieben mit dem verbesserten Bandmaterial, leisten bereits heute fast dasselbe wie andere hochwertige Tonquellen. Und ein Kenner der Branche, Henry Kloss, Chef der amerikanischen Nobelfirma Advent, prophezeite bereits für Ende dieses Jahres einen Kassettenrecorder, der (zu billigerem Preis) jeden HiFi-Plattenspieler »weit in den Schatten stellen soll«.
Die technischen Gegebenheiten für ein ausgeglichenes Finish zwischen Platte und Kassette scheinen somit garantiert; nicht gegeben freilich sind bislang gleiche Marktchancen.
Noch immer nämlich ist die Kassette teurer als die Platte, und sie wird möglicherweise noch teurer, wenn die Hersteller auf Chromdioxid- Band überwechseln werden. Bei der Deutschen Grammophon kostet eine klassische Platte in der Regel 25, der nämliche Titel als Kassette 27 Mark -- lediglich die (seltenen) Doppel-Kassetten, die zwei Platten enthalten, erbringen Ersparnis: 39 gegenüber 50 Mark.
Anders als bei der Schallplatte, die ja unbespielt nicht zu erwerben ist, merkt der Kassetten-Konsument an der Kasse, wie teuer die Musik ist, die er kauft, und wie billig das Material: Für rund drei Mark bekommt er eine Leer-Kassette. auf der eine ganze Schallplatte mitgeschnitten werden kann.
Und so verfahren viele Konsumenten nach dem Do-it-yourself-System. Sie machen, was ohne Mühe und technische Fingerfertigkeit möglich ist, von Funksendungen und geliehenen Platten ihre eigenen Aufnahmen, die sich, bei guter Ausrüstung, in der Tonqualität von derzeitigen Industrie-Kassetten nicht unterscheiden lassen.
Die Hersteller reden nicht gern über diesen grauen Markt der privaten Überspielungen. Ihre Marketing-Leute jedoch können ihn ziemlich genau orten: Was nämlich aus den Kassetten-Programmen schlechter noch als bei der Schallplatte geht, sind Klassik (was sicher mit den HiFi-Bedürfnissen alter Platten-Hörer zu tun hat) und die progressive Pop-Musik; Mittelstandsschnulzen dagegen, James Last, Wim Thoelkes Starparade oder Karel Gott. sind Bestseller der Branche.
Bei »Musik 2000« hat man denn auch eine klar umrissene Vorstellung vom typischen Kassettenkäufer: Es ist der Mann »zwischen 25 und 40, der Party-Musik braucht«, jüngere Leute lassen ihre Pop-Platten kursieren und sparen Geld durch Eigenaufnahmen.
Mehr Besorgnis freilich als die Hobby-Vervielfältiger erregt bei den Produzenten ein noch sehr unübersichtlicher Kassetten-Schwarzmarkt.
In den USA beziffert die Branche den Jahresumsatz der »Bootlegger« bereits finster auf über 100 Millionen Dollar, einigen Schätzungen nach macht die Kassetten-Konterbande gar 25 Prozent des Gesamthandels aus.
Denn »Bootlegger« zu werden, ist nicht schwer, aber schwer ist es, etwas dagegen zu machen: »Jeder Plattenhändler«, so erläutert es ein amerikanischer Hersteller, »kann sich ja ein halbes Dutzend Exemplare einer Erfolgsnummer von uns bestellen und davon Hunderte von Kopien ziehen. Und dann kann er sogar noch versuchen, die Originale zurückzugeben, weil sich die Nummer bei ihm angeblich nicht verkauft.«
Es erscheint nicht undenkbar, daß auch diese Gefährdung des Musikmarktes in Amerika die großen Schallplatten-Konzerne in Europa, die inzwischen alle zur linken Hand das Kassetten-Geschäft betreiben, davon abgehalten hat, ihre Zukunft ganz auf das neue Medium zu setzen: Sonst würde »die MusiCassette -- die tollste Erfindung seit Erfindung des Grammophons« (Philips) die Platte heute schon weit ärger bedrängen.
Ein technisches Projekt zur Abwehr der unlegitimierten Vervielfältiger könnte freilich die unentschlossene Marketing-Strategie der Musik-Macher ändern:
Die schwarzmarktgeschädigten amerikanischen Produzenten überlegen derzeit, wie sie all ihren Bändern einen unhörbaren Hochfrequenzton einkopieren könnten, der bei jedem Überspielungsversuch das aufzeichnende Gerät außer Gefecht setzt und so die Piraterie verhindert.