THEATER »Hau ab, du Arsch!«
Düsseldorf, vor dem Theater. Draußen lungern diese seltsamen Schüler herum, die mit der Leseschwäche, aus der »Die Milch macht's«-Werbung. Sie kicken mit Bierdosen, spielen sich Handytöne vor, gucken unsicher und lämmchenhaft. Innen zu Hunderten jene Frauen, die ich zuletzt vor 20 Jahren in Hamburg als Helga Schuchardt identifizierte. Ich habe zwei erstaunlich unbequeme Holzsitze, dünn überspannt mit Samt. Jemand von links liest alles mit, was ich in meinen gefährlichen Stadelmaier-Spiralblock schreibe. Genau so einen hat er gehabt, von der hochpreisigen Markenfirma Landré, ich habe ihn mir zeigen lassen. Lappig, biegsam, trotzdem unhandlich, und an der Seite die berüchtigte geringelte Stahlfeder, mit der man sich leicht verletzen kann, wenn man um das Blöckchen kämpft. Wer hatte da recht? Der Kritiker oder das Regietheater? Ich bin hier, um mir ein Bild zu machen. Im Theater war ich die letzten 20 Jahre nur gelegentlich. Ich bin nicht als Kritiker unterwegs, sondern als Stiftung Warentest.
Als Erstes also Shakespeares »Macbeth« in Düsseldorf, von Jürgen Gosch.
Macbeth, nackt. Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die minderjährigen Lämmer haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon meterhoch der Dreck entgegenspritzt. Was mag in ihnen nun vorgehen? Der Lehrer hat etwas anderes versprochen. Auch die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet. Nun sehen sie Blut und Schlimmeres. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon die Schauspieler.
Von der ersten Sekunde an stehen alle nackt auf der Bühne. Nur der König trägt etwas, eine verrutschte Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen kann. Der Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt fliehen kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es eine, wäre anschließend das Haus leer - bestimmt hat man das schon oft ausprobiert. Von da aus ist es nicht mehr weit, dem letzten Kritiker mitten in der Vorstellung das Blöckchen zu entreißen und ihn mit derben Worten wie »Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!« einzuschüchtern.
Aber der westliche Mensch ist liberal. Gott sei Dank. Er relativiert gern. Könnte nicht auch die andere Seite recht haben? Musste Stadelmaier unbedingt ein Blöckchen mitbringen? Hätte er seine Eindrücke nicht auch nach der Vorstellung aufschreiben können? Hätte er nicht weiter hinten und unbemerkt sitzen können? Und überhaupt: Warum kritisiert er so viel?
Während ich darüber meditiere, wird minutenlang auf der Bühne gepinkelt. Erst der eine, dann der andere, dann noch einer, dann furzen sie (Tonband aus dem Off), dann scheißen sie einen halben Akt lang und so weiter. Im Publikum ist nun echtes Unbehagen. Kopfschütteln, Frauen verziehen das Gesicht. Einer Schülerin ist schlecht, sie will raus. Auch andere wollen raus, trotz der gnadenlosen Scheinwerfer.
Ein Rinnsal von Flüchtenden bildet sich, Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte, manche weinen. Etwa ein Drittel des zahlenden Publikums verlässt das Haus vorzeitig, trotz der Schikane.
Die Inszenierung wurde von der Kritiker-Jury des Theatertreffens als eine der zehn besten Inszenierungen der Saison nach Berlin eingeladen. Was geht in Kritikern vor?
Der Großkritiker in seiner Burg. Der Kritiker Stadelmaier lehnt es ab, in dieser Jury mitzuwirken. Sein Raum besteht fast nur aus Büchern, manche hat der gefürchtete Herr selbst geschrieben. Buschige dunkle Augenbrauen, ein bohrender Blick. Ein
atypisch aussehender Kritiker, nicht klein und bebrillt, sondern wuchtig, kolossal, angriffsbereit. Der ist auf dem Pausenhof nie verprügelt worden, der musste sich nie in die Bücher flüchten, vor dem hatten selbst die Lehrer Angst. Ich nehme mein Herz in die Hände und frage: »Herr Stadelmaier, wie konnte dieser lächerliche Happening-Stil aus den Siebzigern so lange überleben?«
»Dieses Theater wird verschwinden«, antwortet er, »weil irgendwann das Publikum wegbleibt.«
Ich frage, warum er noch immer hingeht. Sich das antut. Seit über zehn Jahren leidet er darunter, hört man doch. Er ignoriert die Frage, ganz Pflichtmensch alter Schule, spricht ein paar Minuten über seine Kinder, denen er sein Theater in Erzählungen und sogar Kinderbüchern nahegebracht hat. Seine Kohleaugen glühen, und ich spüre, was ihn noch aufrechthält.
Dann redet er vom »Rübenrauschtheater": Alles, was dem Regisseur während der Proben durch die Rübe rauscht, werde umgesetzt. Ohne dass es durch den Text überprüft werden könne. Es handle sich folglich um völlige Beliebigkeit. So beliebig wie das Zeug, das Menschen normalerweise nachts träumen. »Genau deswegen langweilt es immer so, wenn einem die Freundin ihre Träume erzählt beim Frühstück«, pflichte ich ihm eifrig bei.
Goethe in Frankfurt. Nächster Versuch: Goethes »Egmont« in der Goethe-Stadt Frankfurt. Das dortige Theater hat die Sprachverhunzung schon im Namen, wie ein Programm: »schauspielfrankfurt«, kleingeschrieben und zusammen. Da ahnt man die offene Bühne, den Verzicht auf Werktreue, auf Kostüme und Bühnenbild bereits beim Kauf der Karte.
Von außen sieht das Haus aber wunderschön aus. Dieses zukunftsfrohe Leuchten und Glitzern der echten Moderne, die noch keine Postmoderne ahnte. Glas, Stahl, von diesem Tempel inmitten der Stadt wird der Theaterbesucher bestimmt angezogen. Und umso schrecklicher enttäuscht.
Denn wieder sehe ich diese selbstgeschnitzten Blödmannszenen, dieses Punk- und Rock-Zeug, alles vom Regisseur geschrieben, von Goethe nur die Stichworte, das sogenannte Material. Der Regisseur hat das Wort »Vaterland« im Goethe-Text entdeckt. Hey, Mann, »Vaterland«! Das heißt natürlich: Pflichtprogramm. Nämlich 35 Minuten lang »patriotische« Stellen von allen deutschen Klassikern und Nichtklassikern ins Publikum schreien. Die circa 40 Schauspieler bilden einen Chor und brüllen los. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Brüll! Kreisch! Donner! Schepper! Mein lieber Herr Gesangsverein, heil Hitler aber auch, denke ich.
Da hat der Regisseur den verlogenen Goethe mal wieder so richtig schön »dekonstruiert«. Als latenten Nazi? Den Geheimrat, echt? All die hässlichen deutschtümelnden Sätze waren doch von anderen!
Das Kritikerblöckchen im Einsatz. Dass auch wieder »die Sau rausgelassen« wird, interessiert mich kaum noch. Der Schock hat sich durch den »Macbeth« am Vorabend verbraucht. Nachdem ich nackten, meist alten Männern beim Kacken auf dem Donnerbalken zugeschaut habe, kann mich jetzt das wilde Beischlafgestöhne des Campino-Lookalike mit dem Punk-Klärchen im nassen Schlamm nicht mehr erreichen. Ich langweile mich.
Das Klärchen zieht sich aus, der Egmont zieht sich aus, aber Klärchen finde ich hässlich, und Egmont ist ein Mann. Warum isst Wilhelm von Oranien einen Joghurt
von Ehrmann? Wieso wird immer nur geflüstert oder geschrien? Warum stecken die Beine vom Prinzen von Gaure in einem Teddysack? Oder war es der Herzog von Alba, als Penner verkleidet? Und wozu muss er mit einem Klebeband vom Baumarkt zugepflastert werden, und die Kalaschnikow fällt aus dem Koffer, und Pink Floyd spielt dazu?
Ich notiere mir diese entscheidenden Fragen gerade in mein Blöckchen, als eine Schauspielerin auf mich zutritt und mich ins Stück miteinbeziehen will. Natürlich: Sitze ich nicht genau auf dem Platz, auf dem Stadelmaier, der größte und letzte deutsche Theaterkritiker, körperlich angegriffen wurde?
Wie in einem Reflex halten meine beiden Hände mit größtmöglicher Kraftentfaltung das geliebte Blöckchen fest. Wenn die Frau jetzt trotzdem stärker ist, reißt es mir die Innenhaut der Hand auf! Also, wenn sie zugreift. Aber sie tut es nicht, sondern hält mir einen Luftballon hin. Ich ergreife ihn. Die Zuschauer erstarren. Dann fordert sie das Publikum auf, in der Pause mit den Schauspielern zu diskutieren. Über Stadelmaier, denke ich sofort. Aber dann höre ich, es solle über das Stück gehen, über die Möglichkeit einer Revolution im heutigen Deutschland. Daraus wird dann nichts, denn die Zuschauer denken nicht daran. Ich halte mich an meine Schauspielerin, wir lernen uns kennen und treffen uns nach dem Stück in der Theaterkantine.
Die gemütliche Theaterkantine. Hier geht es gemütlich zu, in so einer typischen Kantine eines deutschen Subventionstheaters. Hier sind die Theaterleute unter sich, und auch sonst sind sie ja immer unter sich. Sie haben den schönsten Beruf der Welt. Sie sind sich selbst eine große Familie. Sie agieren sich aus, bei den Proben, auf der Bühne, aber auch sonst, und paaren sich untereinander und trennen sich untereinander und haben ganz, ganz viele ganz, ganz liebe Freunde überall untereinander. Außerhalb des Theaters kennen sie niemanden.
Eine Unterschriftenliste wird von Tisch zu Tisch gereicht. Genervt unterschreiben die Leute. Irgendeine Petition. Sicher wichtig, denke ich und frage die Frau, die damit herumläuft; es ist die Intendantin. Sicher eine politische Resolution gegen Stadelmaier. Er ist jetzt der große Feind. Er bedroht irgendwie durch seinen »Fall« das ganze staatlich geschützte Biotop, und das »wehrt« sich jetzt bestimmt. Ich frage: »Politische Sache, wie?« »Ja, es geht um die neue Raucherverfügung.« Nichtraucher und Raucher sollen besser oder anders voneinander getrennt werden. Auf der Petition lese ich: »Vor dem Hintergrund, dass diverse Gespräche mit dem Betriebsrat, der Frauenbeauftragten, der Schwerbehindertenvertretung sowie auch dem Arbeitskreis Betrieblicher Gesundheitsförderung ...«
Da kommt die Intendantin wütend an meinen Tisch und fragt, was ich in der Kantine zu suchen hätte. Hier kämen grundsätzlich keine theaterfremden Leute rein! »Kann ich mir denken«, murmele ich.
Die Hamburger Horváth-Schlacht. Bloß schnell weg. Auf nach Hamburg, auf zu Horváths Menschen-im-Hotel-Stück »Zur schönen Aussicht«. Das wird sicher keine Ferkelei! Nicht in diesem schönsten aller deutschen Theaterhäuser. Mit dem die Hamburger ihren Größten, nämlich den Theaterkritiker und Dramaturgen Gotthold Ephraim Lessing, ehrten, und zwar dadurch, dass sie es im Stil des wunderschönsten Hochbarock ausschmücken ließen.
Die Hamburger Bürger kommen auch heute in tadelloser Garderobe und füllen die Plätze. Ich atme tief durch. Zu früh gefreut. Ein dicker Mann zieht sich aus, stellt sich nackt und breitbeinig mit gezogenem Glied vor den Kopf einer liegenden jungen Frau, schreit sie an, sie solle seinen Pimmel in den Mund nehmen und so weiter, steigert sich dabei in einen Schreikrampf, und das als »verklemmt« bekannte Hamburger Publikum buht. Skandal, Skandal. Gewagt, gewagt. Theater muss »gewagt« sein. Grenzen überschreiten. Leider ist diese Aufführung dann noch viel schlechter als die anderen beiden. Die Schauspieler berserkern.
Manchmal denke ich, es müsste bestürzend oder komisch sein, wenn man plötzlich keine Popmusik mehr hören könnte. Wenn sie einfach nie mehr gespielt würde.
Und stattdessen gäbe es nur noch falsch imitierte Zwölftonmusik. Nicht die echte von Schönberg, sondern beliebiges, selbstgebasteltes Dröhnen, Ächzen und Klingeln. Und man würde 10, 20, 30 Jahre nur noch diesen kranken Lärm hören. Und wer sich noch an die Beatles, die Strokes oder an Tokio Hotel erinnerte, wäre ein Spießer, ja der Feind! Und Diedrich Diederichsen würden sie das Blöckchen zerreißen ...
Ich wachte auf. Immer noch war ich in der so faden wie deprimierenden »Zur schönen Aussicht«. Wie schön es wäre, die von Horváth angelegten Konflikte nicht von völlig verrohten, entstellten, karikierten Menschen ausgetragen zu sehen, sondern von echten! Wenn nicht alle Männer Schweine und Proleten, nicht alle Frauen Schlampen wären!
Bochum, Schauspielhaus. Das deutsche Theater, denke ich, ist verloren. Doch anderntags sitze ich im Bochumer Schauspielhaus und erlebe ein Wunder. Auf dem Programm steht Oscar Wildes Komödie »Ein idealer Gatte«. Und ich sehe - Oscar Wilde.
Regisseur Armin Holz macht kein »Gleichheitszeichentheater« wie alle anderen, nach dem Motto Faust = Gerd Schröder, Macbeth = Angela Merkel als Mann, Wallenstein = Boris Becker, gespielt von einem transsexuellen Zwillingspärchen.
Er lässt sein Stück tatsächlich dort stattfinden, wo es geschrieben wurde, im Jahr 1895, mit entsprechenden Dandy-Kostümen. Holz brachte das Haus offenbar sogar dazu, einen Vorhang anzuschaffen, und lernte, wie man ihn auf- und zuzieht. Er erzählte mir in dem Lokal »livingroom« in der Fußgängerzone von Bochum, dass es tatsächlich keinen Vorhang am Theater gab. Eine völlige Überrumpelung also jetzt: Es gibt vier Akte und eine Pause! Und einen Vorhang. Wahnsinn!
Die Schauspieler sprechen den Text von Oscar Wilde, und zwar nicht in einer verballhornten Übersetzung, sondern einer exakten. Die Paradoxa Wildes werden in ihrer ausdrucksstarken Schwebe gelassen und nicht in sexuelle Eindeutigkeiten überführt. Die Schauspieler können sprechen, man versteht in der letzten Reihe jedes Wort. Die Zuschauer lachen oft und freundlich. Armin Holz braucht keine Video-Einspielung, keine Rockmusik und nicht das Kino. Ihm reicht der Text, und er bewundert seine Schauspieler. Und die spielen so glänzend, dass einem das Herz aufgeht.
Sebastian Koch, bekannt aus »Speer und Er«, gibt einen wunderbar verkommenen, liebenswerten, aufregend präsenten und doch immer leisen Lord Goring, und Markus Boysen ist viril, unfassbar viril, und man hat schon ganz vergessen, dass Männlichkeit so aussieht, etwa wie Marcello Mastroianni in seinen ersten Filmen. Margit Carstensen ist von hochbürgerlicher »Lieblichkeit«, und die größte Überraschung ist die 25-jährige Claude de Demo, die neben der Carstensen nicht verblasst. Premierenbeifall: 13 Minuten. Ich kämpfe mit den Tränen.
»Wer heute als Schauspieler noch eine Figur richtig spielen und nicht dekonstruieren will, muss normalerweise zum Film gehen«, sagte mir Armin Holz vorher. Bei ihm dürfen sie sprechen. Wie schön!
Oscar Wilde und die Vogelgrippe. Ach, hätte Stadelmaier das miterleben können! Aber er verbarrikadiert sich wohl besser in seiner Frankfurter Redaktionsstube. Denn die argwöhnische Raucherverordnungs-Intendantin Elisabeth Schweeger hat nun zur großen Gegenattacke geblasen. Die »Süddeutsche Zeitung« schreibt: »Der Skandal ... geht in eine neue Runde. Nun hat sich das Theater zur Wehr gesetzt. Man werde es ,nicht hinnehmen, dass so ein bedauerlicher Vorfall wie dieser dazu genutzt wird, den Kunstraum Theater und die künstlerische Freiheit der dort tätigen Künstler einzuschränken', heißt es in einer Erklärung.«
Sicher wird es nun zu vielen Solidaritätsaktionen kommen, zu Podiumsdiskussionen, Lichterketten und umgedichteten Singspielen an der Berliner Volksbühne. Claus Peymann hat dem Schauspieler Lawinky, der Stadelmaier so nachhaltig medienwirksam den geliebten Spiralblock entriss, in seinem Ensemble »Asyl« gewährt. Überhaupt sind sich so ziemlich alle einig in dieser verdorbenen Branche, dass Stadelmaier »nun wirklich« zu weit gegangen ist.
Auch die anderen Theaterkonformisten werden sich nicht lumpen lassen und irgendein Crossover von Stadelmaier, Bayreuth und Vogelgrippe aufführen. Und irgendwann dann wird der letzte Zuschauer zum Mitspielen animiert. Und das wäre dann das Ende von 250 Jahren deutscher Theatergeschichte.