ANEURYSMA Heilendes Eisen
Dr. John F. Alksne, Neurochirurg am Harbor General Hospital in Torrance (US-Staat Kalifornien), spannte den Kopf des Kranken in die stählernen Bügel der Zielvorrichtung. Dann bohrte er ein fingernagelgroßes Loch in den Schädel und schob eine bleistiftstarke Sonde mit magnetischem Kopf durch die Hirnmasse.
Zielpunkt des Vorstoßes in das empfindliche Organ war ein pulsender Blutsack an einer Hirnarterie des Patienten. Jede Sekunde konnte die dünnwandige Ausbauchung der Ader - Fachwort der Mediziner: Hirn-Aneurysma - platzen und das Gehirn mit Blut überfluten*. Doch der Arzt kam dem drohenden Blutsturz ins Gehirn zuvor - mit einem Schrotschuß.
Er schob eine Hohlnadel durch die Bohrung der Sonde bis in das Innere der Blutblase. Dann injizierte er die heilende Ladung: mikroskopisch kleine Eisenkugeln (Durchmesser: drei bis fünf tausendstel Millimeter), halb so groß wie rote Blutkörperchen.
Drei Tage nach der Operation konnte der Arzt die Sonde aus dem Schädel des Patienten entfernen. Der Magnet hatte das Eisenpulver in dem Blutsack festgehalten. Zwischen den Eisenteilchen war alsbald Blut zu einem festen Pfropf geronnen - nun konnte der Blutstrom wieder an der Ausbuchtung vorbeipulsen, ohne daß er die Aderwand noch weiter aufblähte oder gar sprengte (siehe Graphik Seite 184).
Die neuartige Schrotschuß-Methode, so resümierten Alksne und seine Kollegen Dr. Aaron G. Fingerhut und Dr. Robert W. Rand unlängst in dem US -Fachblatt »Surgery« ihre ersten Heilerfolge, »wird die Behandlung von Hirn -Aneurysmen drastisch vereinfachen«.
Hirn-Aneurysmen wurden noch vor wenigen Jahrzehnten als seltene und glimpflich verlaufende Erkrankungen angesehen. In Wahrheit sind sie, wie die moderne Röntgendiagnostik offenbarte, eine der häufigsten Ursachen lebensgefährlicher Gehirnblutungen.
Ein Aneurysma entsteht, wenn die Wand einer Arterie - meist durch einen angeborenen Gewebeschaden - nachgiebig wird; der Druck des Blutes treibt die schadhafte Stelle allmählich auf - so, wie sich ein Schlauch in einem defekten Autoreifen wulstig aufbläht. Mitunter beult sich der Blutsack (etwa im Brustkorb oder Bauchraum an der großen Körperschlagader) bis auf Mannskopfgröße. Im Gehirn können Aneurysmen immerhin bis zum Umfang eines Hühnereis anschwellen.
Die aufgeblähte Arterienwand kann schließlich dünner sein als die Haut eines Luftballons. Dann ist das kritische Stadium erreicht: Wenn sich der Blutdruck - durch körperliche Anstrengung oder psychische Erregung - plötzlich ändert, kann die Blutblase leckschlagen oder vollends bersten.
Wie bei Aneurysmen in anderen Körperregionen hatten die Mediziner auch die Katastrophe im Gehirn gelegentlich durch operative Eingriffe abzuwenden gesucht: Wenn etwa spurenweise ins Gehirn sickerndes Blut einen Aneurysma-Riß ankündigte, öffneten sie den Schädel und klemmten den Adersack mit einer Metallspange ab oder unterbanden ihn mit einer Fadenschlinge; sie flickten die defekte Arterienwand mit transplantiertem Muskelgewebe oder verklebten sie mit Kunststoff.
Doch solche Operationstechniken bargen erhebliche Risiken. Meist mußten wichtige Hirnteile beiseite gedrückt oder gar durchtrennt werden, ehe das Aneurysma freilag; und häufig brach die lädierte Arterie auf, noch während der Chirurg sie aus der Hirnmasse herauspräparierte. Etwa jeder vierte Patient starb während des Eingriffs oder kurz danach.
Seit Jahren suchen die Mediziner deshalb nach schonenderen Methoden, das Leck im Gehirn zu stopfen. Ein aussichtsreiches Behandlungsprinzip zeichnete sich ab, als die Ärzte den Mechanismus der - seltenen - Spontanheilung von Aneurysmen untersuchten: Sie fanden das Blut in dem Adersack zu einem Pfropfen geronnen; in den Blutklumpen war Narbengewebe eingewachsen, das die mürbe Arterienwand wieder verstärkt hatte.
Solche natürlichen Abdichtungen hatte als erster der Neurochirurg Dr. John P. Gallagher vom Providence Hospital in Washington künstlich erzeugt. Miteiner Luftdruckpistole schoß Gallagher kleingehackte Schweineborsten und Pferdehaare in den Blutbeutel; die rauhen Borsten ließen das Blut gerinnen (SPIEGEL 44/1962). Doch die Borsten -Pistole war noch grobes Geschütz, denn wie bei den Klemm- und Kleb-Eingriffen mußte das Aneurysma dabei mühsam freigelegt werden.
Alksne und seine Mitarbeiter hingegen schossen nun Feinkorn. Eisenstaub, so ermittelten sie in Tierversuchen, läßt das Blut ebenso gut wie grobes Haar gerinnen. Die Vorteile des Schrot - Verfahrens sind beträchtlich:
- Die Gefahr einer Thrombosebildung in den zu- und abführenden Adern ist nahezu ausgeschaltet; geringe Mengen des heilenden Pulvers, die trotz dem Magneten in die Blutbahn abgeschwemmt werden, können selbst feinste Haargefäße noch passieren und werden schließlich von der Leber unschädlich gemacht.
- Die Magnetsonde hinterläßt nur
- einen dünnen Stichkanal und kann
in den meisten Fällen so durch das Gehirn geführt werden, daß sie keine lebenswichtigen Regionen zerstört.
- Die Ärzte können den Verlauf der. Eisen-Füllung Im Hirninnern auf dem Röntgenschirm exakt beobachten.
Anfangs praktizierten die US-Mediziner das Eisen auf einem Umweg in den brüchigen Blutbeutel. Sobald die Magnetsonde in den Schädel eingeführt war, injizierten sie das Pulver in die Halsschlagader. Der Magnet fing dann die winzigen Kügelchen ein und zog sie aus dem Blutstrom in den Adersack.
Neuerdings spritzen Alksne und seine Mitarbeiter den Eisenbrei durch die Hohlnadel in der Sonde direkt in das Aneurysma. Insgesamt acht Patienten wurden bisher nach dem Feinschrot -Verfahren operiert. Einer der Kranken starb nach dem Eingriff an einem neuerlichen Ader-Riß. Bei den übrigen sieben wuchs erwartungsgemäß der rettende Blutpfropf, und die gefährdete Gefäßwand vernarbte.
Alle Patienten erlebten den Schuß ins Gehirn bei Bewußtsein. Die kalifornischen Ärzte betäubten lediglich die Kopfhaut im Operationsfeld. »Das einzige, was der Patient verspürt«, berichtet Alksne, »ist das schmerzlose Durchbohren des Schädelknochens - es ist so ähnlich wie beim Zahnarzt.«
* Aneurysma: Kunstwort, abgeleitet von griech. aneurynein = erweitern.
Neurochirurg Alksne
»Ein Bohren wie beim Zahnarzt«