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PSYCHOANALYSE Heilung durch die Bibel

In Jerusalem, so meint die französische Philosophin Eliane Amado Lévy-Valensi, könnte aus jüdischem Mythos und Freudscher Psychoanalyse ein neuer Humanismus, eine neue Chance für die Menschheit entstehen,
aus DER SPIEGEL 52/1971

Vor 18 Jahren schrieb der jüdische Marxist Ernst Bloch: »Ubi Lenin, ibi Jerusalem« -- wo der Kommunismus herrschen wird, dort ist die messianische Hoffnung des Judentums erfüllt. Nunmehr glaubt die jüdische Philosophin Eliane Amado Lévy-Valensi, 52: Ubi Jerusalem, ibi Freud -- »in Jerusalem« könnte ein »neuer Humanismus« entstehen, der sich auf Psychoanalyse und jüdische Tradition stützen wird*.

Für die in Paris und Israel Philosophie und Psychoanalyse lehrende Professorin besteht der entscheidende Zusammenhang zwischen jüdischer Tradition und der Lehre Freuds darin, daß der Sinn der Psychoanalyse mit einem Gebot des 5. Buches Mose übereinstimmt: »Du wirst das Leben wählen.«

Schon vor Amado haben Analytiker und Philosophen die Bedeutung der Psychoanalyse für eine humanistische Gesellschaftstheorie entdeckt. Vor allem die Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule so Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und zuletzt Jürgen Habermas -- haben das ursprüngliche Konzept des Wiener Seelenarztes, eine »Theorie der Brüderlichkeit« anzustreben, aufgenommen und weiterentwickelt.

Freilich kritisieren die Zumeist jüdischen Denker der Frankfurter Schule -- wie Horkheimer 1936 -- den biologischen Pessimismus des späten Freud: die totale Abhängigkeit des Menschen vom Todes- und Zerstörungstrieb. Und 1970 erklärte Psychoanalytiker Erich Fromm, nur als »kritische, herausfordernde Theorie«, als Humanismus der »Liebe zum Leben« könne die Psychoanalyse sozial wirksam werden.

Zu einer herausfordernden Theorie jedoch, so behauptet Frau Amado in ihrem von Frankreichs bedeutendster Tageszeitung »Le Monde« gerühmten Buch, könne die Psychoanalyse nur werden, wenn der Heilungsprozeß des Menschen und der Menschheit aus der jüdischen Tradition begründet werde.

Eine durch die jüdische Tradition neu definierte Psychoanalyse muß in sich selbst eine Ethik entdecken. Sie kann laut Amado nicht wertfrei sein, weil ihr Objekt der handelnde und leidende Mensch selbst ist.

Wie Freud bestimmt auch Amado die Neurose durch den griechischen My-

* Eliane Amado Lévy-Valensi: »Les voies et les pièges de la psychanalyse«. Editions universitaires, Paris; 392 Seiten; 49,95 Franc.

thos. Freud konnte aus der griechischen Ödipus-Tragödie den »Kernbereich aller Neurosen« erklären. Frau Amado meint jedoch: »Der griechische Mythos erklärt sehr gut, wie ein Mensch erkrankt, doch kann er absolut nicht erklären, durch welches Wunder der Mensch geheilt wird.«

Mit dem Ödipus-Mythos konnte Freud zwar den »fatalen«, schicksalhaften Kreislauf der Neurose, den Wiederholungszwang, erklären. Aber Ödipus, der unbewußt seine Mutter geheiratet und seinen Vater erschlagen hat, blendet sich selbst: Leben und Tod bleiben für ihn Verhängnis, er kann die Geschichte nicht wahrnehmen.

Die jüdischen Mythen hingegen, so die französische Philosophin, begründen menschliche Freiheit, sie wählen das Leben und die Geschichte: »Die ganze Bibel ist eine ... Herausforderung an den Tod.«

Auch im jüdischen Mythos machen sich Menschen schuldig -- so Adam, Eva und Kain. Sie werden jedoch von Gott, ihrem absoluten Dialog-Partner, gewarnt und in ihrer Freiheit herausgefordert, sogar dann, wenn ihnen diese Freiheit noch gar nicht bewußt geworden ist. So sprach Gott zu Kain, bevor Kain seinen Bruder Abel erschlug (1. Mose 4,7): »Bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.« Doch Kains Freiheit, über das Böse zu herrschen, geht verloren: Der brüderliche Dialog wird vom monomanen Monolog des entfremdeten Triebs zerstört.

Kains Brudermord ist daher die entfremdete Brüderlichkeit, ein Narzißmus des Bösen, der das sittliche Grundgebot der Bibel verletzt: »Du wirst nicht töten.« Aber auf dem sittlichen Gebot, auf dem Gesetz, beruht für die jüdische Tradition wie für Frau Amado die Geschichte. Denn erst im Schuldigsein, in der Reue erfährt der Mensch das Mitsein mit den anderen, werden ihm Freiheit und Gewissen bewußt.

Der Aufbruch des Gewissens -- wie in Kains Ausruf: »Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir Vergeben werden möge« (1. Mose 4,13) -- distanziert den Menschen daher vom Trieb: »Der Aufbruch des Gewissens sprengt die Wiederholungsstruktur der »natürlichen« Geschichte« -- des Schicksals.

Der Mensch, das zeigt der jüdische Mythos laut Amado, wird also frei erst »jenseits des Triebs« -- eines entfremdeten Triebs, der nach psychoanalytischer Erkenntnis den Menschen an eine fatale, schicksalhafte »Vorgeschichte« seines Lebens fesseln kann.

Aber diese Freiheit ist paradox: Adam und Eva, so Amado, erliegen der Versuchung, nicht dem Trieb. Sie handeln aus ursprünglicher, wenngleich noch unbewußter Freiheit: »Die erste Hinneigung des Subjekts zu seinem Objekt ist Versuch, wenn man will Versuchung, aber noch nicht Trieb.«

Erst aus Versuch und Versuchung, aus Reue und Reflexion entsteht Geschichte. Der Mensch ergreift sie, wenn er seine Freiheit begriffen hat: die Welt als unerschöpfliches Feld von Handlungen und Situationen, über die er immer wieder neu entscheiden muß.

Daß sich der Mensch seiner Freiheit und damit einer immer neu zu schaffenden, unvorhersehbaren Welt zu stellen hat, geht für die französische Philosophin aus dem Bibel-Bericht über das Ausruhen Gottes nach der Schöpfung hervor. Sie deutet ihn nach dem hebräischen Text: Der Mensch soll die unvollendete Schöpfung fortsetzen und in sein eigenes Werk verwandeln.

Das menschliche Werk der Geschichte setzt jedoch den Dialog, die gegenseitige Hilfe voraus. Im jüdischen Genesis-Mythos wird deshalb der Mensch als Paar geschaffen. Eva erscheint in dem Moment, als Adam den Tieren Namen gibt. Er erhält also eine Hilfe, die wie er fähig ist, Wesen und Dinge zu benennen, aber auch im Grenzfall, »ihn vor sich selbst«, vor seinem Narzißmus und seiner Isolation, »zu retten«.

Daß der Mensch als Paar geschaffen worden ist, heißt also: Der verwirklichte Dialog gehört zum Heilungsprozeß der Psychoanalyse wie zum humanistischen Heilsprozeß der Geschichte. Jeder Mensch ist für jeden anderen derjenige, der fragt und auf Antwort wartet. Wer nicht auf das Wort des anderen hört und narzißtisch in ihn seine eigenen Mängel projiziert, »löscht ihn aus«.

Frau Amado: »Narziß ist dem Tod geweiht, wenn er nur sein eigenes Bild und sein eigenes Geheimnis sucht. Die Wahrheit des Menschen ist intersubjektiv. Jeder Mensch, ob Jude, Christ oder Moslem, wird sie erfassen, wenn er die Psychoanalyse in eine Menschenlehre des Dialogs verwandelt.«

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