PHILOSOPHEN Heilung in Tiruvanamallai
Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharschi trat, wußte ich im Blitz: »Ja, das ist es.« So beschreibt Professor Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, 65, in einem Buch ("Der Garten des Menschlichen"), das Ende September erscheinen soll, den Höhepunkt eines Meditations-Erlebnisses, das er vor acht Jahren in Indien hatte**.
Das Buch (eine Komposition von Essays und Vorträgen) behandelt so ziem-
* Auf der Pugwash-Konferenz in München mit dem sowjetischen Physiker Markow.
** Carl Friedrich von Weizsäcker: »Der Garten des Menschlichen« Carl Hanser Verlag. München; 612 Seiten; ca. 34 Mark.
lich alle Großprobleme der Gegenwart -- von der friedlichen und militärischen Atomnutzung bis zur Psychoanalyse. Es erörtert die Bergpredigt, den Marxismus, den Moralismus der Neuen Linken, Goethes Liebeslyrik, Heideggers SPIEGEL-Gespräch, die Quantenphysik und und.
Daß diese gigantische Problemschau nur in »lockerer, gartenähnlicher Darstellung« (deswegen der Titel) vorgeführt werden kann, versteht sich von selbst. Gleichwohl hat sie ein zentrales Thema: die Versöhnung von europäischer Wissenschaft und indischer Weisheit, anders gesagt: die Erlösung Europas aus dem religiösen Nihilismus der Wissenschaften durch Meditation.
Dabei ist die europäisch-asiatische »Begegnung« für den Physiker und Gottsucher Weizsäcker nicht nur ein kulturgeschichtliches Thema. Reiz und Wagnis seines Buches bestehen nicht zuletzt darin, daß es die Versöhnung von Wissenschaft und Meditation als ein existentielles Problem des Autors beschreibt.
Schon Anfang der fünfziger Jahre war Weizsäcker, der damals in Göttingen Physik lehrte, auf die Bedeutung indischer Weisheit hingewiesen worden. Zu den Anregern gehörte Königin Friederike von Griechenland. Doch erst 1969 ergab sich für den Professor, der inzwischen einen philosophischen Lehrstuhl in Hamburg übernommen hatte, die Gelegenheit einer Indienreise. Dabei besuchte er das Grab des 1950 gestorbenen Hindu-Heiligen Schri Ramana Maharschi in Tiruvanamallai nahe Madras.
Dort hatte er dann jenes, an eine Meditation sich anschließende Erlebnis, das sich offenbar in zwei Phasen abspielte. Erste Phase: eine wie »im Blitz« geschehende Ausdehnung des Wissens, eine Erleuchtung also. Zweite Phase: beglückendes Schweben.
Die erste Phase schildert Weizsäcker als einen schnellen Übergang von noch vorhandenen Umwelt-Wahrnehmungen ("Licht auf den Steinen«, »Moskitos") in einen enthobenen Zustand: »Aber im Flug waren die Schichten, die Zwiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: »Du' -- »Ich' -- »Ja. Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen.«
In der zweiten Phase hatte Weizsäcker Bewegungserlebnisse unterschiedlicher Art. Das eine war die Empfindung einer Levitation, deren Ende Weizsäcker als ein sanftes Herabgleiten beschreibt: »Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück.« Im anderen Fall sah er sich selbst »wie eine Metallkugel, die auf eine blanke Metallfläche fällt und, nach der Berührung eines Augenblicks, zurückspringt, woher sie kam«.
Das Levitations- und Erleuchtungs-Erlebnis von Tiruvanamallai ist für Weizsäcker ein wichtiges und heilsames Ereignis gewesen. Er selber berichtet, daß die dabei gemachte Erfahrung ihn aus jahrelangen Depressionen erlöst habe. »Ohne sie hätte ich«, schreibt er, »die Erstickungserlebnisse jener Jahre vielleicht nicht bestanden.«
Diese Depressionen hatten zweifellos auch mit dem politischen Wirken Weizsäckers zu tun. Anfang der fünfziger Jahre war er immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß die menschliche Gesellschaft nicht ohne die in der Bergpredigt geforderte Nächstenliebe leben kann -- eine Erkenntnis, die für ihn jedoch zunächst folgenlos blieb: »Ich wußte, was von mir verlangt war, und tat es nicht. Ich wußte, daß die Menschheit in die Katastrophe treibt und daß ihr nur helfen kann, wer diesen Weg geht. Mit Depressionen quittierte ich, daß ich zur »Stütze der Gesellschaft« wurde.«
Erst einige Jahre später lernte Weizsäcker, auf eine »innere Stimme« zu hören, die ihn zu politischem Wirken inspirierte -- vermutlich auch zu dem berühmten Göttinger Atomrüstungs-Protest.
Offenkundig erlebt Weizsäcker Politik mit einer Intensität, die Leib und Seele gleichermaßen beansprucht (was übrigens keineswegs selten ist). Nach seinen Auseinandersetzungen im Herbst 1956 mit Bundeskanzler Adenauer und dessen Verteidigungsminister Strauß über die damals von der Regierung erwogene Atomrüstung mußte er gar zwei Tage das Bett hüten, mit Ohrensausen und Brechdurchfall« wie er berichtet.
Eine Quelle der Beunruhigung ist bis heute für Weizsäcker das eigene Verhalten zum Nationalsozialismus. Er bekennt, daß er für die »Pseudo-Ausgießung des Heiligen Geistes von 1933« empfänglich gewesen sei und damals geglaubt habe, im Nationalsozialismus »eine noch unenthüllte Möglichkeit eines höheren Inhalts zu spüren«. Obwohl Weizsäcker sich, trotz dieser Versuchungen, niemals mit der NSDAP einließ, rechnet er sich noch heute »zu denjenigen Deutschen, die das Faktum des Nationalsozialismus nicht bewältigt, sondern überlebt haben«.
In derselben selbstquälerischen Weise erörtert Weizsäcker die Haltung der deutschen Kernphysiker im Kriege, zu denen auch er selber gehörte. Er bezweifelt heute, daß sie ihren damaligen Entschluß, die Bombe nicht zu bauen, durchgehalten hätten, wenn ihnen die Konstruktion möglich gewesen wäre. Und für sich selbst gesteht er, daß er während des Krieges einen Traum geträumt habe, »der sich zu meinem Glück nicht erfüllte«. Hatte er davon geträumt, Deutschland durch den Bau einer Bombe zu retten?
Der strenge, teils meditierende, teils moralisierende Umgang Weizsäckers mit sich selbst ist keineswegs bloßer Narzißmus. Seine Selbsterfahrung hat immer eine religiöse und politische Dimension. Das gilt auch für sein Meditations-Erlebnis von Tiruvanamallai. Meditation kann, so meint Weizsäcker, den Habitus des Menschen (in Richtung größerer Friedfertigkeit) verändern und so auch Veränderungen in der Gesellschaft bewirken.
Tatsächlich ist auch Weizsäckers Vorschlag« Europa möge sich die Meditationserfahrungen des Ostens zu eigen machen, nicht nur religiös, sondern vor allem politisch zu verstehen. Letztlich hat er dabei eine kulturrevolutionäre Veränderung Europas und des europäischen Menschen im Sinn. Die Begegnung des »reflektierenden« Europa mit dem »meditierenden« Asien hält er für ein »weltgeschichtliches Ereignis«, das Europa aus den Traditionen einer aggressiv-analytischen ("zerschneidenden") Wissenschaftskultur befreien könnte.
Nach Weizsäcker bildet die »mathematische Naturwissenschaft den harten Kern der Kultur des neuzeitlichen Europa«. Diese Kultur ist im wesentlichen »Willens- und Verstandeskultur«. Sie tendiert, meint Weizsäcker, zu »einem Zerschneiden der wirklichen Welt, einem physischen Zerschneiden, einem Kaputtmachen von etwas, das unter Umständen gar nicht wiederhergestellt werden kann«. Sie sei »durch einen entfesselten Fortschritt der Erkenntnis und der Macht« charakterisiert, der »essentiell Unfriede in sich selbst ist«.
Diese Europa-Kritik geht, auch wenn Weizsäcker sie an mehreren Stellen modifiziert, an den Nerv der wissenschaftlich-technischen Welt von heute. Sie besagt, daß die (jeder menschlichen Tätigkeit eigene) partiell zerstörerische Wirkung jetzt eine gefährliche Grenze erreicht hat.
Er fordert deshalb zu einem anderen, entschieden nicht-wissenschaftlichen Verhalten auf, das man in der Meditation lernen soll und »das nicht mit dem Zerschneiden beginnt, um dann wieder zusammenzusetzen« sondern ich würde am liebsten sagen, das mit dem Geltenlassen des Unzerschnittenen beginnt«.
»Geltenlassen des Unzerschnittenen«! Was bedeutet das? Wohl nicht den gänzlichen Verzicht auf Wissenschaft und Technik? Doch wenn nicht dies, wie soll man sich dann die Versöhnung von Wissenschaft und Meditation, des »Zerschneidens« also und des »Geltenlassens«, vorstellen? Gibt es da wirklich Versöhnung? Und war dann die »Seligkeit ohne Tränen«, die dem Physiker in Tirunavanamallai zuteil wurde, wirklich mehr als ein privates, ein therapeutisches Ereignis?