I.
Es muss nicht immer Deutschland sein. Um nachts um den Schlaf gebracht zu werden, kann man auch an Europa denken oder, ganz konkret, an den Ausgang der nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019. Wenn die Wahlbeteiligung weiter sinkt (im Mai 2014 lag sie bei 42,5 Prozent) und der Zulauf zu den Anti-EU- und Protestparteien weiter steigt (derzeit kommen sie auf mehr als ein Fünftel der Abgeordneten), dann werden proeuropäische Mehrheitsbildungen im Straßburger Parlament noch schwieriger als bisher. Ob einer der Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien eine Mehrheit hinter sich bringen wird, um dann glaubhaft das Amt des Kommissionspräsidenten für sich beanspruchen zu können, ist fraglich.
Von den Spitzenkandidaturen, die 2014 erstmals erprobt wurden, haben sich ihre Befürworter wahre Wunder versprochen. Der Wettkampf der Spitzenkandidaten sollte der EU-Kommission ein demokratisches Mandat verschaffen, aus ihr eine europäische Regierung machen und dem Europäischen Parlament zum Rang eines vollwertigen, in Regierungslager und Opposition gegliederten Parlaments verhelfen. Es kam anders. Die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat akzeptierten zwar mehr oder minder widerwillig den Spitzenkandidaten der stärksten, der christdemokratisch-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), und wirkten damit an der De-facto-Parlamentarisierung der Kommissionsspitze mit. Aber das voraussehbare Ergebnis war, dass die Kommission unter dem früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker sich nicht mehr vorrangig als Hüterin der europäischen Verträge, sondern als "politische Kommission" verstand, die Vertragsbestimmungen mitunter höchst eigenwillig interpretierte. Die Mehrheit des Europäischen Parlaments wiederum sah ihre vornehmste Pflicht darin, "ihrer" Kommission die gewünschte Rückendeckung gegenüber "Euroskeptikern" und EU-Gegnern zu geben, und vernachlässigte darüber mehr als einmal ihre Aufgabe, die Kommission zu kontrollieren. Zur Popularisierung des Projekts Europa trug die Reform von 2014 aber nicht bei.