Heinrich Böll über Franz Alt: »Frieden ist möglich«
Immer wieder hat Franz Alt die CDU, deren Mitglied er ist, auf ihr C ab-, ihres C wegen bei ihr angeklopft. Bisher, wie mir scheint, mit wenig Erfolg. In seinem Buch »Frieden ist möglich«, Untertitel »Die Politik der Bergpredigt«, konfrontiert er naiv die Bergpredigt mit der C-Komponente der Rüstungspolitik. Sachkundig, soweit einer das in diesem widersprüchlichen Wirrwarr von Zahlen, Berechnungen sein kann, ist er. Alle Auf-, Nach-, Abrüstungstheorien hat er einvernommen, Kapazitäten studiert.
Alt bekennt sich als Abrüstungskonvertit: Lange war er für, nun ist er gegen Nachrüstung. Er stellt fest, daß in den USA »katholisch« - zu dieser Variante des C bekennt er sich - gegen, in der Bundesrepublik für Nachrüstung steht. Ob das für die statistische Menge von immerhin 50 Millionen US-Katholiken zutrifft, ist schwer nachprüfbar. Für die Katholiken im Regierungslager der USA trifft es nicht zu.
Das »für« in der Bundesrepublik trifft nur zu, wenn man die offiziöse Stimme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken nimmt, das allerdings mit peinlich-blindem Eifer der Nachrüstung zustimmte, noch bevor die Verhandlungen so recht begonnen hatten. Für die statistische Menge der immerhin 27 Millionen deutscher Katholiken trifft es nicht zu. Mühsam, denunziert, verhöhnt und belächelt, sind viele von ihnen in Friedensgruppen tätig, sind bei Demonstrationen und Diskussionen dabei, gegen die arrogante Militanz ihres ZdK, dessen Stimme keineswegs die ihre ist. Und ihre Mühe ist nicht vergeblich.
Die Regierung der USA ist über ihre katholischen Bischöfe so beunruhigt, daß ihre Abgesandten beim Vatikan fast ein und aus gingen und ein kleines Rüstungskonzil bewirkten. Die deutschen Bischöfe verhalten sich mal wieder flauflau. Nach der Wahl sollen wir ihre Meinung erfahren. Merkwürdig, wo sie doch zur Teilnahme an der Wahl aufrufen und dieses Thema nun einmal ein Wahlkampfthema geworden ist.
Alt selbst scheint, was die deutschen C-Politiker betrifft, nicht sehr zuversichtlich zu sein. Nach einer Reise in die DDR, wo er und sein Freund Norbert Blüm mit einem SED-Politiker Gespräche geführt haben, stellt er fest, daß beide Politiker stramm am Feindbild festhalten. »Jeder«, schreibt er, »braucht den anderen als Feind. Das gilt für meinen Freund Norbert Blüm ebenso wie für den geschätzten Gesprächspartner der SED.« Er stellt fest, daß sie »nicht abrüsten können, weil sie Angst haben vor Abrüstung und letztlich Angst vor dem Frieden«.
Weiß Herr Blüm, daß in Lateinamerika schon jeder Priester oder Bischof, der auch nur ein Minimum an Rechten für die Land- und Besitzlosen fordert, ein Kommunist ist und daß sein »Feindbild«, das ihn hier aufrechtzuerhalten scheint, eines Tages auf jeden zurückschlagen kann, der sich mit dem Beiwort »sozial« definiert?
Während ich die Druckfahnen von Alts Buch las, fand in Bonn der Friedenskongreß der CDU statt, auf dem ja dann die Bergpredigt mit Genehmigung der in konfessioneller Ausgewogenheit anwesenden Theologen endgültig zu den Kuriosa abgelegt worden ist. Unbrauchbar ist dieses Juwel. Hält Franz Alt nicht diese Kostbarkeit vor die falsche Pforte? Was bedeutet das C bei Reagan, bei Frau Thatcher, bei Kohl, Strauß, Dregger, Wörner, Blüm - in diesem unserem Land, dem am dichtesten mit Atomwaffen bestückten Land dieser Erde?
Ich fürchte, Franz Alt steht mit seinem C, mit seiner Bergpredigt vor verrammelten Toren. Den C-Politikern ist ja nicht einmal aufgefallen, was am Nato-Doppelbeschluß das Doppelte ist: erst verhandeln, dann möglicherweise nachrüsten. Von vier Jahren, die man sich zur Frist gesetzt hat, hat man drei verstreichen lassen, bevor der erste Teil dieses Doppelbeschlusses verwirklicht wurde. Jetzt eilt's plötzlich, jetzt soll dieses Wahnsinnsprojekt in Hast zu Ende geführt werden. Sollte man da nicht nach dreijährigem Warten aufs Verhandeln auch mindestens drei Jahre fürs Verhandeln erübrigen können?
Weinberger, von Alt zitiert: »Wenn die Abschreckung versagt, müssen wir fähig sein zu gewinnen, um zu überleben.« Ein fast gleichlautendes Zitat liegt von Breschnew vor. Schon stellt man, laut Alt, in den USA Berechnungen an: 80 Prozent der Bevölkerung hätten eine Überlebenschance, 45 Millionen Menschen würden umkommen. »Wenn«, fragt Alt, »in den USA 20 Prozent der Bürger umkommen würden, wie viele würden es dann in Europa sein, dem Hauptschlachtfeld eines Atomkrieges?« Hauptschlachtfeld, Vorfeld und Feindbild, das sind die entscheidenden Worte. Die Pläne für eine Verlegung des US-Hauptquartiers nach England liegen vor.
Mag sein, daß das C in der Politik zeitweise zu Hoffnungen berechtigte, inzwischen ist es, was Nachrüstung betrifft, zum Zeichen der Hoffnungslosigkeit geworden. Zu verstehen ist, daß es in dieser Frage verschiedene Meinungen geben kann. Nicht zu verstehen ist die totale Geschlossenheit der Union in einer solchen Frage.
Vielleicht täuscht sich Franz Alt, wenn er immer noch »christlich« mit friedlich gleichsetzt. Die christlichen Milizen im Libanon, die Christkönigskrieger in Spanien, die katholische Missionierung und Eroberung Lateinamerikas, Kreuzzüge, Religionskriege, sie alle haben dem C nicht viel Kredit eingebracht. Die allerletzten christlichen Politiker der Weimarer Republik, Papen und Kaas, waren auch nicht gerade Hoffnungsträger. Lateinamerika droht jetzt die Missionierung durch eine andere Variante des C, die fundamentalistisch-kapitalistische, und diesen strengen C sind Teile des Katholizismus schon kommunismusverdächtig. Bemerken Blüm und seine Freunde nicht, daß ihre Glaubensbrüder dort dem Feindbild zu gleichen beginnen, das ihnen hier zur Rechtfertigung S.198 von noch mehr Atomwaffen dient?
Was bedeutet »christlich« noch, was bedeutet »katholisch« noch? Haig oder jener brasilianische Bischof, dessen Kirche man zerstören ließ, weil er für seine Bauern Land und Rechte forderte und deshalb ein Kommunist ist? Franz Alts so naive wie provokatorische Konfrontation Bergpredigt-Rüstungspolitik bringt die Gedanken in Bewegung, verursacht Nachdenken über das C, das uns hier droht.
Die ehrfürchtigsten Urteile über die Bergpredigt habe ich von sowjetischen Autoren gehört, von solchen, die dort noch leben, keineswegs alle Dissidenten, die meisten Agnostiker. In den westlichen Ländern, Bundesrepublik inklusive, habe ich bei Lektoren und Übersetzern merkwürdige Erfahrungen gemacht, wenn sie bei mir auf (mir) geläufige Bibel- und Liturgiezitate stießen. Verblüffte Frage: »Wo haben Sie das denn her?« Sollte man in Ländern, die immer mehr zu Missionsländern werden, nicht endgültig C-Politiker als peinlich empfinden dürfen?
Ich weiß, die Sowjet-Union wird nicht nach den Regeln der Bergpredigt regiert, wer würde das auch von einem Staat erwarten, der sich als atheistisch-materialistisch definiert. Wie definieren wir uns? Wir unterscheiden uns in nichts von den Nichtchristen, die in gesteigerter Absurdität aus- und auf- und aufrüsten, um Abrüstung zu bewirken. Familie, Besitz, möglichst Familienbesitz - das sind lauter »christliche« Werte, die alle »Heiden« ebenso beanspruchen können.
Weder Raketen noch konventionelle Waffen bringen eine frohe Botschaft und verteidigen sie auch nicht. Frieden ist möglich, und die Bergpredigt ist abgelegt. Auch ohne sie ist Frieden möglich, auch Atheisten sind friedensfähig, sogar Materialisten, vielleicht kommt das Christentum aus dem gebeutelten Lateinamerika als Jesustum zu uns zurück, nachdem es das militante C und das militante K (für Kapitalismus und Kommunismus) überwunden hat, und macht die Bergpredigt wieder brauchbar.
Aus einem Schweizer katholischen Katechismus von 1975 hat Franz Alt ein schönes Zitat bereit. Frage: »Sind die Anweisungen in der Bergpredigt wörtlich zu nehmen?« Antwort: »Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben zu unhaltbaren Zuständen führen würde.« Na, also. Selten so gelacht. Die unhaltbaren Zustände in Lateinamerika, in fast allen ehemaligen Kolonien, in der Dritten Welt sind, die unhaltbaren Zustände in Auschwitz, Stalingrad, Vietnam, Korea und im Libanon waren nicht auf die Bergpredigt zurückzuführen.
Ganz gewiß brauchbar ist die Bergpredigt für die fundamentalistischen Missionare, wenn sie den Land- und Rechtlosen predigen: »Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.« Denen, die vier-, fünfhundert Jahre lang beide Wangen hingehalten haben, die täglich erleben, daß nur, wer Gewalt anwendet, Land »erbt«, Somoza und alle möglichen Konsorten, diesen Habenichtsen kann man dann mit dem symbolischen Sinn solcher Worte kommen, während man selbst das »Wer hat, dem wird gegeben« wörtlich nimmt.
Der Hinweis auf den Trost im Jenseits kommt peinlicherweise immer von denen, die auch auf dieser Erde nicht ganz so trostlos leben und sich das Land, wo immer sie können, mit Gewalt nehmen. Und da wundert man sich, daß es unter diesen Habenichtsen Frevler gibt, von sämtlichen Teufeln des Kommunismus Besessene, die aufs Jenseits nicht warten wollen, deren Geduld zu Ende ist; die verfluchten Kommunisten der Befreiungsbewegungen, die auch noch von einigen Priestern, Nonnen und sogar Bischöfen unterstützt werden.
»Wer hat, dem wird gegeben«, das wäre doch ein Motto für den nächsten Weltwirtschaftsgipfel - und auf Handzetteln könnte man den Rest des Zitats nachliefern: »und er wird im Überfluß leben; wer aber nicht hat, dem wird auch weggenommen werden, was er hat.« Dieses niederschmetternde Zitat darf man dann wörtlich nehmen, die Bergpredigt aber nur symbolisch.
Franz Alts Gedanken und Recherchen sind mehr als nur redlich und mehr als S.199 auf provokante Weise naiv. Er zwingt zum Nachdenken darüber, was das C den Völkern dieser Welt gebracht hat, was es uns noch bringen könnte. Rüstung bedeutet weitere Verarmung, Krieg ist nicht mehr Krieg, nur noch Mord und Selbstmord; konventioneller Krieg ist ein lebensgefährlicher Euphemismus, unkonventioneller Krieg, also Atomkrieg, würde laut Präsident Carter »jede Sekunde einen Zweiten Weltkrieg bedeuten«. Das wären bei nur zwei Minuten Atomkrieg einhundertundzwanzig Zweite Weltkriege.
Vielleicht hätte das Christentum noch eine Chance, wenn es zum Jesuschristentum würde. Beides, Jesustum und Christentum, sind keine notariell verbrieften Besitzstände. Es gehört allen, auch denen, die sich nicht dazu bekennen. Ein paar Hinweise auf Lateinamerika waren notwendig, weil das »Feindbild«, dieses festgefressene Zeichen krankhafter Dummheit, dort eine mörderische Wirkung hat, die es hier nicht haben muß. Es gibt so viele Arten »Kommunismus« wie es Arten »Christentum« gibt und Arten »Sozialismus«.
Es gibt glaubwürdige Formen des Christlichen, des Jesuanischen, es sind nicht die Menschen, die sich christlich definieren, es sind die Politiker, die sich das C an die Brust heften, die es immer weniger glaubwürdig machen - oder durch ihre militante Arroganz zu seiner Degenerierung beitragen. Eins sollte man doch wissen: Kreuzzüge sind nicht gefragt, sie bringen mehr Unglauben hervor als Glauben. Die »totale Abschreckung« könnte eine unerwünschte Folge haben: daß das Christentum abschreckender wird, schreckenerregend in der Anmaßung, »christlich« zu sein im kapitalistischen Panzer.
Franz Alt ist ein Beweis dafür, daß katholisch in der Bundesrepublik nicht ausnahmslos »für« Nachrüstung steht, er wird die Friedensbewegung und nicht nur ihren katholischen Teil ermutigen; sie arbeitet ja im Sinne der Bergpredigt gewaltlos, macht noch keine Politik, beeinflußt sie aber erheblich, in der Bundesrepublik und anderswo. Ja, Frieden ist möglich.
Franz Alt wird's schwer haben - oder zu leicht, wenn man seine massive Kritik an der Aufrüstung funktionalisiert, indem man sagt: »Seht da, welche Meinungsvielfalt es bei uns gibt]« Eine solche Vereinnahmung hätte sein Buch nicht verdient. Schwer zu sagen, ob er bei einem Sieg der CDU deren Mediendrahtbürste zum Opfer fallen könnte.