FRY-PREMIERE Heinrich Kurzrock
Nahezu fünf Stunden lang, eine Dreiviertelstunde über die Mitternacht hinaus, mußte sich das Premierenpublikum in der »Stadsschouwburg«, dem von einem Le-Corbusier-Mitarbeiter noch nicht ganz fertiggestellten Stadttheater der niederländischen Provinzstadt Tilburg, gedulden. Dann erst starb König Heinrich, von seinen Söhnen in der Schlacht besiegt, auf der Flucht.
Einen Karren hinter sich herziehend, erschienen Flüchtlinge auf der Bühne und raubten dem toten Heinrich Schmuck und Kleidung. Nur Heinrichs Bastardsohn Roger blieb bei der Leiche und bedeckte sie mit einem Mantel, denn: »Er (Heinrich) wollte keinen Nackten in seinem Reich.«
Mit dieser düsteren Szene endete das Drama »Curtmantle« des englischen Bühnenschriftstellers Christopher Fry, das zur Eröffnung des neuerrichteten Tilburger Stadttheaters von der Amsterdamer Theater- und Fernsehtruppe »Ensemble« uraufgeführt wurde. »Curtmantle« - zu deutsch: »Kurzrock« -
war der volkstümliche Beiname König Heinrichs II. von England, der stets einen bescheiden kurzen Mantel getragen und - zu Lebzeiten Barbarossas -
von 1154 bis 1189 über England und den größten Teil von Frankreich regiert hatte. Den gleichen Zeitraum von 35 Jahren hat Fry zu einem Stück zu kondensieren versucht.
Der 53jährige Dramatiker, dessen letztes Bühnenwerk »Das Dunkel ist licht genug« 1954 uraufgeführt worden war - seither hat Fry lediglich in Rom am Szenario des amerikanischen Mammutfilms »Ben Hur« mitgearbeitet -, ist auf deutschen Bühnen vornehmlich durch seine Verskomödie »Die Dame ist nicht fürs Feuer« bekannt geworden.
Sein neues Stück, »Curtmantle«, behandelt einen Stoff, den vor Fry schon zwei andere zeitgenössische Dramatiker bearbeitet haben: der Wahlengländer Thomas Stearns Eliot und erst neuerdings - der Franzose Jean Anouilh.
Sowohl Eliots »Mord im Dom« (Uraufführung 1935 in Canterbury) als auch Anouilhs »Becket oder Die Ehre Gottes«
(Uraufführung 1959 in Paris) haben den Machtkampf zwischen Heinrich II. und Thomas Becket, dem Königs-Kanzler und späteren Erzbischof von Canterbury, zum Inhalt. Im Gegensatz zu Eliot und Anouilh jedoch, die beide den Priester Becket zum Helden ihrer Dramen machten - bei Eliot tritt Heinrich überhaupt nicht auf -, ist in Frys Schauspiel der König »Kurzrock« die überragende Figur. Während Eliot und Anouilh ihre Dramen mit der Ermordung des Bischofs durch vier Königs -Vasallen enden lassen, findet in Frys Dreiakter der Mord vorm Altar schon im zweiten Akt statt; der dritte ist, nachdem Heinrich gegen die Kirche gesiegt hat, dem wenig glücklichen Kampf des Königs um sein Reich vorbehalten.
Die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche wird von Fry durch den Streit zwischen Heinrich und Bekket dargestellt. Heinrich, der ein »Hundertjähriges Reich« des Friedens und der Ordnung errichten und die Macht von Kirche und Staat miteinander vereinen will, verleiht seinem Kanzler Thomas Becket im Vertrauen auf dessen Loyalität ein hohes geistliches Amt; er ernennt ihn zum Erzbischof von Canterbury. Heinrich II.: »In unserem Königreich kann es nicht zweierlei Gesetz geben.«
Becket aber erklärt: »Wen Ihr zum Erzbischof macht, der muß entweder Gott mißfallen oder Euch.« Er legt sein Kanzleramt nieder, behält nur die Erzbischofswürde und wird als strenggläubiger Geistlicher ein fanatischer Verteidiger der kirchlichen Rechte gegen den Anspruch des Staates.
Als Heinrich ihn auffordert, die Rechte des Staates schriftlich anzuerkennen - gemeint sind die 1164 von Heinrich II. erlassenen Clarendonschen Konstitutionen, die unter anderem die kirchliche Gerichtsbarkeit einschränken sollten -, verweigert der Bischof die Unterschrift.
Er wird des Hochverrats beschuldigt und aus England verbannt.
Später kommt es zu einer - freilich nur scheinbaren - Aussöhnung zwischen König und Bischof, und Becket kehrt aus dem normannischen Exil nach England zurück. Kurz darauf jedoch erregt sich der jähzornige König: »Wer wird mir diesen störrischen Priester vom Halse schaffen?« Vier britische Barone verlassen daraufhin, einander zuwinkend, die Bühne, und es geschieht jener Mord im Dom, mit dem sowohl Eliots als auch Anouilhs Stück enden.
Christopher Fry aber wollte Heinrichs Bemühung vorführen, seinem Reich - dem größten, das der englischen Krone je auf dem Festland untertan war - eine einheitliche Rechtsordnung zu geben. So hielt Fry dem Tilburger Theaterpublikum weitere neunzehn Jahre europäischer Geschichte vor Augen.
Nach Thomas Beckets Tod gilt Heinrichs Kampf nun vor allem seiner Gemahlin Eleonore von Poitou, die zuvor mit Ludwig VII. von Frankreich verheiratet gewesen war, und seinen Söhnen Richard Löwenherz und Johann ohne Land. Eleonore, von Heinrich vernachlässigt, geht nach Frankreich und wiegelt ihre Söhne gegen den König auf. Richard und Johann verbünden sich mit dem neuen König von Frankreich, Philipp August, und besiegen ihren Vater; Heinrich stirbt in Frys Stück auf der Flucht vor den Toren der brennenden Stadt Le Mans.
Mit seinem Königsdrama, so erläuterte Fry, der zur Premiere nach Tilburg gekommen war, habe er keine Chronik dramatisieren wollen; er habe vielmehr versucht, »einzelne, aber in
sich zusammenhängende Episoden« zu schreiben. Um die immerhin dreieinhalb Jahrzehnte umfassende Handlung zu einem Theaterabend zu komprimieren, bediente sich Fry allerdings recht ungebräuchlicher dramaturgischer Mittel. So überspringt die Szenenfolge der drei Akte, die durch keine Pause unterbrochen wird, oftmals ganze Jahre. Zuweilen wechselt auch der Schauplatz der Handlung auf offener Bühne, während die Dialoge unbeirrt weiterlaufen.
»Man muß«, so beklagte sich der Amsterdamer »Telegraaf« angesichts dieser Theatertechnik, »zu sehr mit dem Stoff vertraut sein, um mitdenken, mitfühlen und miterleben zu können.«
»De Volkskrant« sprach von einer »Aneinanderreihung historischer Dias«, und der »Nieuwe Rotterdamse Courant« kritisierte: »Unwillkürlich stellt man Vergleiche mit Anouilh, an, und wenn die Akzente auch anders liegen, muß man doch ehrlich gestehen, daß Fry als Bühnenautor nicht an den Pariser herankommt, daß ihm namentlich dessen brillante Virtuosität fehlt.«
Bei den deutschen Beobachtern kam Christopher Fry, der am »Kurzrock« vierzehn Jahre gearbeitet hat, etwas besser davon, und die Kaufleute der Stadt Tilburg, deren Theater mit der Fry-Premiere eingeweiht wurde, dokumentierten ihren Kunstsinn auf ihre Weise. »In jeder Konditorei«, berichtet »Die Welt«, »ein Becket aus Marzipan, in den Kaufhäusern (stehen) Heinrichs mit goldenem Visier neben der Damenkonfektion.«
Dramatiker Fry
Nach dem Mord im Dom...
... noch ein dritter Akt: »Curtmantle«-Szene (Becket, Eleonore, Heinrich II.)
Anouilh