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UNTERHALTUNG Heißer Stuhl

Talk-Show allerorten -- auf Kabarett- und Theaterbühnen, in einem halben Dutzend westdeutscher Städte triumphiert das neue, ursprünglich fürs Fernsehen entwickelte Spektakel.
aus DER SPIEGEL 23/1975

Für Beate Uhse war es »das erste Mal«. Inge Meysel, »laut Image der gereinigte Unterleib« (Meysel über Meysel), brachte schon mehr Erfahrung mit -- sie hatte bereits mit Dietmar Schönherr vor ARD-Kameras geplaudert.

»Natürlich können Sie hier vor 300 Leuten«, sagte sie am Montag letzter Woche im Hamburger Malersaal zu den beiden »Talk mit Show«-Moderatoren Kathrin Brigl und Volker Elis Pilgrim, »eine ganz andere Talk-Show machen als das Fernsehen mit 20 Millionen Zuschauern.«

Weil alles anders war, gab sie auch zu, schon mal mit einer Frau geschlafen zu haben. Am Abend darauf gestand die Diseuse Evelyn Künneke. ebenfalls vor ausverkauftem Haus, von ihren rund 360 Liebhabern sei Frank Sinatra der beste gewesen, er sei überhaupt »der einzige alte Sack, mit dem ich sofort ins Bett gehen würden

»Die Leute«, triumphierte Kathrin Brigl nach zwei Hamburger »Talk mit Show«-Abenden, »sind mir auf der Straße nachgelaufen und schimpften, weil wir schon Schluß machen mußten.«

Fast über Nacht haben die Bildschirm-Talker vom Schlage Schönherr und Rosenbauer allerorten Konkurrenz bekommen. Schriftsteller und Kabarettisten, Journalisten und Theaterleute holten die Talk-Show aus den Fernsehstudios und brachten sie auf die Bühne -- enthemmt.

»Das größte Spektakel, das hier zur Zeit passiert«, nennt Kabarettist Horst Jüssen seine Talk-Show »Sprech-Stunde«, die er gemeinsam mit dem Journalisten Joachim Soyka jeden Sonntag in München moderiert -- »wir waren am letzten Dienstag schon ausverkauft, obwohl die Leute gar nicht wußten, wer am Sonntag alles kommt.«

»Wer kommt, kommt« heißt der Titel der »total unkommerziellen« Talk-Show im Kölner Boulevard-Theater »Senftöpfchen«, zu der Redakteur Alfred Biolek alle vierzehn Tage vorwiegend Gäste aus dem Show-Business« zum Beispiel Joy Fleming, aber auch Leute wie den Chef der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Rudolf Stefen, einlädt.

Für etwa zehn Mark pro Eintrittskarte kauft sich das Publikum das Recht auf Mitbestimmung des Spektakels. Es darf Fragen stellen -- je heikler, je intimer, desto besser -, darf Zustimmung zeigen. Ablehnung äußern. rein- und rausgehen. Bier trinken und sich vor Vergnügen auf die Schenkel schlagen.

»Wie machen Sie denn Sex mit Ihrem Bauch?« wurde das 232 Pfund schwere »muntere Dickerchen«, ein Hamburger Koch, gefragt, den das Moderatoren-Team Brigl-Pilgrim in den Malersaal eingeladen hatte. Der

Volker Elis Pligrim und Kathrin Brigl.

Vater von sieben Kindern blieb gelassen: »Den räume ich beiseite.«

»Wie war das mit dem Neger aus Afrika, Frau Uhse?« wollte ein Neugieriger aus der ersten Reihe wissen. »Er war nicht aus Afrika«, antwortete die Sex-Händlerin. »Eigentlich traurig«, meinte Pilgrim zu Rene Durand, dem Sex-Regisseur des »Salambo«, »daß bei Ihnen die Zuschauer nicht onanieren dürfen.«

Bei solchen Gelegenheiten (Antwort: Die Ober müßten dann »im Paddelboot kassieren") sank das »Abenteuer der menschlichen Begegnung« dann auf Herrenwitz-Niveau. Von allen Tabus, die da scheinbar angetastet wurden, fiel am Ende nur das Sex-Tabu, verbal: vom »Bumsen« und »Ficken« war gehäuft die Rede. »Als hätte jemand die Klatschspalte genommen, daraus ein Stück geschrieben und dabei viel Gossenjargon benutzt«, urteilte eine Hamburger Talk-Show-Besucherin.

Dennoch scheint die neue Volksbelustigung ein Bedürfnis zu erfüllen, das die »verapparateten Medien« (Pilgrim) nicht erfüllen können: Der Zuschauer bleibt nicht zur Passivität verurteilt. Als Kathrin Brigl das Gespräch mit dem homosexuellen Filmemacher Rosa von Praunheim ("Ich bin eine freischaffende, elitäre Tunte") unterbrach und fragte: »Wer ist denn im Publikum schwul?«, meldeten sich etwa 20 Zuschauer im Saal.

»Die Wohnzimmeratmosphäre«. berichtete Horst Jüssen, dessen »Sprech-Stunde« in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft stattfindet, »lockert die Leute blitzschnell.« Auch Fehler dürften gemacht werden -- »es ist dann nicht gleich eine Blamage vom Bodensee bis Husum«.

Die Münchner Talkmaster hatten es auch gewagt, neben Lockermachern wie der Stripperin Nadja Gray und Glamour-Prominenten wie Gila von Weitershausen den (durch ärztlichen Kunstfehler) querschnittgelähmten Arzt Dr. Theo Mauser auf die Bühne zu holen. In sachlichem Ton erzählte Mauser, daß er nur deswegen nach seiner Operation nicht Selbstmord begangen habe, weil seine Mutter krebskrank war und sein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte.

In Ulm verzichtet der Chef des »Theaters in der Westentasche«, Theodor Dentler, ganz auf die Selbstdarstellerqualitäten der Profis aus dem Show-Business. Er setzt ausschließlich Unbekannte auf einen »heißen Stuhl«, die von ihm und dem Publikum ausgefragt werden dürfen: einen Strafgefangenen, eine Hausfrau, einen Trinker.

»Die Antworten«, schrieb die »Stuttgarter Zeitung«, »machen betroffen.« Der Zuschauer könne oft seine eigenen Probleme erkennen und »die Oberflächlichkeit, mit der man gemeinhin über sie hinwegzugehen pflegt«.

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