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TECHNIK Heißes Produkt

Mit dem jüngsten Produkt der Elektronikindustrie, dem Kleinstcomputer, ist das »Rechenzentrum für jedermann« in greifbare Nahe gerückt.
aus DER SPIEGEL 42/1975

Der schwarze Kasten mit der weiß verblendeten Front und den zwei Kippschaltern hat die Größe eines HiFi-Verstärkers: 58 X 33 X 9 Zentimeter. Er ist an jeder Steckdose anzuschließen, seine Stromaufnahme entspricht der von zwei mittleren Glühlampen (210 Watt), und auch der Preis der schwarzen Box hält sich in unteren HiFi-Grenzen: 2800 Mark.

Doch in dem unscheinbaren Gehäuse verbirgt sich der jüngste Sproß einer Computer-Generation, die nun wohl endgültig die elektronische Revolution in jede Fabrikhalle und jedes Büro, in die Arztpraxis und schließlich auch den privaten Haushalt tragen dürfte: ein Mikrocomputer.

100 000 Rechenoperationen und mehr pro Sekunde können Mikros wie der »Digital LSI-11«, der seit vorletztem Monat in der Bundesrepublik angeboten wird, vollziehen. Solche Leistungen wurden noch Anfang der sechziger Jahre nur von Computern der 250 000-Mark-Klasse erbracht. Und in der transistorlosen Zeit der fünfziger Jahre füllte ein röhrenbestückter Computer dieser Leistungskategorie ein Zimmer für sich und kostete Millionen.

Der erste Mikrocomputer wurde Ende 1972 in den USA entwickelt. Nun sind es schon mehr als ein Dutzend größerer Firmen, die sieh in den für 1975 auf 100 Millionen Markgeschützten Markt teilen. 1980, so die Vorausschätzung der Experten, dürften die Mikro-Hersteller die Umsatz-Milliarde erreicht haben. »Mikrocomputer«. notierte das Wirtschaftsblatt »Business Week« Ende letzten Monats, »zählen zu den heißesten Produkten, die es je gab.«

»Jeder Versuch, alle potentiellen Anwendungsgebiete eines solch vielseitigen und mächtigen Geräts aufzuzählen«, urteilte der französische Coniptiter-Experte André G. Vacroux in der Wissenschaftszeitschrift »Scientific American«, »würde spätestens in einigen Jahren als naiv belächelt.« Schon jetzt haben die Mikros größere Daten-Verarbeitungs-Anlagen aus manchen Bereichen verdrängt und sich neue erschlossen: Sie steuern Verkehrsampeln und Fließbänder, sortieren Luftfracht und buchen Passagiere, registrieren und berechnen die Stunden der Gleitzeit-Angestellten, lesen und buchen Schecks.

Die anvisierten Einsatzmöglichkeiten reichen von der automatischen Überwachung Schwerkranker und Frischoperierter auch in kleinen Kliniken, der automatischen Blutanalyse beim Internisten und Allgemeinarzt, der Steuerung kleiner Fertigungsserien etwa in der Textil- oder der Lederbranche bis zur Computer-Registrierkasse im Supermarkt, die zugleich die Lagerhaltung steuert.

Von »fast unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten« schwärmte auch Robert N. Noyce, Präsident der US-Elektronikfirma Intel Corp., die mit ihren Mikrobauteilen die Entwicklung der neuen Computer entscheidend vorantrieb. Intel hatte vor vier Jahren den ersten sogenannten »Mikroprozessor« hergestellt, eine komplette, programmierbare Recheneinheit auf einem einzigen Halbleiter-Kristall -- Kernstück der neuen Computer, denn solche Mikroprozessoren entsprechen der zentralen Recheneinheit bei größeren Computern.

Auch sonst ähneln die neuen Mikrocomputer mi Aufbau (Branchenjargon: »Architektur") den Mittel- und Großgeräten. Um die Zentraleinheit (Mikroprozessor) sind Gedächtnisspeicher sowie die Schaltkreise der Befehls- und Logik-Einheiten gruppiert.

Die Mikros können wie die Großrechner mit optischen oder mechanischen Ein- und Ausgabegeräten -- Sensoren, Bildschirmen, Fernschreibern oder Druckern -- verbunden werden. In einer Hinsicht sind sie sogar ihren großen Brüdern überlegen: Sie arbeiten auch in nichtklimatisierten Räu-

* Zur automatischen Einstellung der Vergaser auf das optimale Luft-Kraftstoff-Gemisch bei der US-Firma Chrysler.

men bei Temperaturen zwischen Null und 50 Grad Celsius, sogar noch bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent.

Die Gehäusemaße der Mikros täuschen dabei sogar noch über ihr eigentliches Kleinformat hinweg: Der Mikroprozessor, die Kerneinheit dieser bislang kompaktesten unter den »genialen elektronischen Idioten« (US-Wissenschaftsautor John H. Douglas über Computer), ist ein Silizium-Chip von nur wenigen Millimetern Seitenlänge. Doch auf solchem Mini-Chip werden bis zu 20 000 Transistoren untergebracht, geätzte Verbindungen auf dem Kristall ersetzen dabei Hunderte von (früher erforderlichen) Steckverbindungen und Kabelanschlüssen.

Diese programmierbaren Chips (Stückkosten derzeit: 250 Mark) können auch unabhängig von Computern vielfältige Steuerfunktionen übernehmen -- etwa in Motorprüf- und Einstellgeräten. Doch das ist nach Meinung der Experten nur der Anfang einer lawinenartigen Ausbreitung der Wunderchips. Schon in drei Jahren. schätzt »Business Week«, dürfte der Preis für einen Mikroprozessor auf 20 Mark gesunken sein. Und vieles. was bisher nur Science-fiction war, könnte dann verwirklicht werden: Der vorprogrammierte selbsttätige Staubsauger und die Lehr- und Lernmaschine für alle Kinderzimmer, das Auto, dessen Treibstoffgemisch und Bremsbeläge, Reifendruck und Zündung ständig elektronisch überwacht werden, ebenso wie das »intelligente«, Bankaufträge ausführende Telephon -- freilich auch die kaum noch abzuwendende zielsichere, billige Robotbombe.

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