Zur Ausgabe
Artikel 79 / 112

ZEITGEIST Helden, bitte melden!

Auf der Suche nach Superstars werden die Deutschen verstärkt in der eigenen Geschichte fündig: Martin Luther und Wunder-Storys über Fußballer und tapfere Bergleute bewegen die Film- und Fernsehzuschauer. Auch Modemacher und Trendblätter bedienen sich nationaler Mythen.
Von Nikolaus von Festenberg und Martin Wolf
aus DER SPIEGEL 49/2003

Deutschland, ein Jammertal: Die Bürger stöhnen unter der Abgabenlast. Die Regierung ist mit sich selbst beschäftigt. Nur der Oppositionsführer bleibt stur; er fordert Reformen und die Mächtigen heraus. Für seinen Ungehorsam landet er beinahe auf dem Scheiterhaufen.

Die Story des kleinen Augustinermönchs und Kirchen-Revoluzzers Martin Luther, Jahrgang 1483, den Papst und Kaiser am liebsten als Ketzer verbrannt hätten, ist in den deutschen Kinos der Überraschungshit des Herbstes. »Luther«, eine deutsche Produktion mit dem »Shakespeare in Love«-Darsteller Joseph Fiennes in der Titelrolle, haben trotz eher mäkeliger Kritiken bereits rund 1,5 Millionen Menschen gesehen - die meisten freiwillig: Schulklassen und Konfirmandengruppen machten nur etwa ein Drittel der »Luther«-Zuschauer aus, berichten Kinobetreiber.

Luther ist der älteste, aber längst nicht der einzige Deutsche, dessen Star-Potenzial gerade neu entdeckt und multimedial verwurstet wird.

Fast drei Millionen Kinozuschauer ließen sich von Mitte Oktober an »Das Wunder von Bern« rühren, den Sönke-Wortmann-Film über jene deutschen Fußballer um Helmut Rahn, die 1954 in der Schweiz die Weltmeisterschaft gewannen - und damit der Nation der Kriegsverlierer zu neuem Selbstbewusstsein verhalfen.

Als Fernsehereignis des Jahres gilt bereits jetzt der jüngst gesendete Sat.1-Zweiteiler »Das Wunder von Lengede«. Der Film über die wunderbare Errettung von elf Erzbergleuten ist ein Heldendenkmal für deutsche Arbeitstugenden, die einst das Wirtschaftswunder vollbracht haben: Verantwortungsbewusste Chefs, bienenfleißige technische Intelligenz und die Kameradschaft des einfachen Arbeitsmannes bilden eine schlagkräftige Einheit. Eine Hymne auf deutsche Tüchtigkeit, die sich in der Stunde der Not bewährt.

Mit Gespür fürs Populistische rief zuletzt das ZDF nach englischem Vorbild eine Aktion Heldenshow aus. Im naiv-törichten, aber mit ordentlichen Einschaltquoten belohnten »Unsere Besten«-Sende-Reigen schafften es Konrad Adenauer, Willy Brandt, Albert Einstein, Karl Marx, Hans und Sophie Scholl sowie - da isser wieder! - Martin Luther in die Endrunde der besten zehn.

Sieht ganz so aus, als übten sich die Deutschen mit einiger Lust in einem Heroenkult, den sie aus guten Gründen lange entbehren mussten. Mit bemerkenswertem Eifer schicken sie sich an, die eigene Geschichte nach wahren oder vermeintlichen Helden und nationalen Symbolen abzusuchen und diese entsprechend zu feiern - im Kino, im Fernsehen, in der Kunst, in der Mode.

»Szene Deutschland - Unsere Stars aus Kunst, Film, Musik, Literatur« titelte etwa im August die Modezeitschrift »Vogue«. Vom Cover lächelte Claudia Schiffer (Wahlheimat: England), die fürs Foto »ein Seidentop und einen Faltenrock von Strenesse« sowie ihren Sohn Caspar trug. Sie vermisse in England »Kinderschokolade, Linsensuppen, Schwarzbrot und Kräutertees«, gestand Schiffer.

»Best of Germany« nannte die Architektur-Zeitschrift »AD« ihr Oktober-Heft, in dem sie ihren Lesern die angeblich »100 schönsten Dinge Deutschlands« vorstellte. Als da wären: »Sportfotos von Leni Riefenstahl« (Platz 33), der Porsche Carrera GT (Platz 32), das Jüdische Museum in Berlin (Platz 19) und, auf Rang 1, der alte Bonner Kanzlerbungalow. »Dieses Land ist eine Schatzkammer der Qualität«, jubelte »AD«, auf das man ruhig stolz sein könne, aber bitte auf Englisch: »Don''t worry. Be proud.«

Gleich schwarz-rot-gold, wie die »Bild«-Zeitung im Wiedervereinigungsrausch, kam im November das Magazin »Max« daher. »Made in Germany - Warum wir besser sind, als alle denken«, kündete es vom Titel; man drohte »50 Deutsche« an, »die die Welt noch kennen lernen wird«.

Was haben solche Aufwallungen von deutscher Heldensehnsucht und frischfröhlichem Patriotismus mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu bedeuten? Folgt auf den »Verfassungspatriotismus«, den Jürgen Habermas beschwor, nun ein Verzweiflungspatriotismus? Und: Ist Deutschland, fast sechs Jahrzehnte nach dem Ende der Hitler-Herrschaft, nun plötzlich doch ein Land wie jedes andere?

Na ja: Elf schlichte und betont bescheidene junge Fußballer, angeführt von einem listigen Alten im Trainingsanzug; ein fanatischer Mönch am Rande des Wahnsinns; ein Haufen staubverschmierter Kumpel - den Heldenhimmel, besonders einen deutschen, stellt man sich eigentlich herrschaftlicher vor.

Trotzdem regt sich angesichts der medialen Heldengedenktage Kritik. »Da die Ökonomie labil wird, suchen die Deutschen neue Identitätsanker, nicht zuletzt in der Historie. Daraus ergibt sich leicht eine Tendenz zur Verkitschung, Verharmlosung, Verflachung. Geschichte, wo man gerne hingeht«, warnte die »Zeit«.

In Wahrheit ist der deutsche Heldenolymp längst gnadenlos boulevardisiert. Viele Jahre lang verehrte man in der Bundesrepublik am liebsten politisch unverdächtige Größen wie Uns Uwe Seeler, Soraya und Kuli, Mutter Beimer und die Mutter der Nation, Inge Meysel - im Grunde passt Deutschlands jüngster Glamour-Superstar Dieter Bohlen ganz gut in diese Ahnenreihe. Gesicherte Kulturgrößen von Bach bis Beethoven, von Goethe bis Thomas Mann verblassten im Flitterlicht.

Der Einfluss einer prosaischen Nach-68er-Aufklärung tat ein Übriges. Erst verdunkelte immer genaueres Wissen über deren Leben den Glorienschein von Revolutionsidolen wie Fidel Castro oder Mao. Dann stürzten alle großen Männer und großen Frauen der Historie in den Abgrund des Skeptizismus. Personen traute man immer weniger Einfluss zu - Strukturen, Verhältnisse, Schichtzugehörigkeiten, Komplexität hießen die neuen Götter, die die Geschichte lenkten.

Die Bühne der Weltgeschichte wurde zum Marionettentheater. An den Strippen zogen anonyme Mächte, hinter denen wie-

der Unbekannte zogen. Doch die strukturalistische Weltsicht setzte sich nicht durch: Von Verhältnissen gibt es keine Bilder, von Komplexität keine anständigen Storys. Beinahe zwangsläufig kehrten die Helden auf die Bühne der Geschichte zurück - allerdings getreu Bert Brechts Maxime: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.«

Rainer Werner Fassbinder machte Hanna Schygulla zur »Lili Marleen«-Sängerin Lale Andersen, István Szabó entzauberte in »Mephisto« das Theatergenie Gustaf Gründgens, Eberhard Fechner suchte die »Comedian Harmonists« auf. Alle diese Heldenlieder sind vom Trauma des Nationalsozialismus geprägt, sie handeln von den Verwundungen, die Hitler dem Leben der Berühmten schlug, indem er deren Liebe, Lebenslust und Ideale beschädigte. Die Suche nach dem verehrungswürdigen Vorbild in der seriösen Kategorie wurde immer auch Geschichtsstunde über NS-Gewalt - notwendig, aber auch sehr anstrengend.

Die Tradition so genannter Bio-Pics in Deutschland ist schließlich braun gefärbt: Während der Nazi-Zeit waren, zumeist im Auftrag von Propagandaminister Joseph Goebbels, gleich reihenweise Spielfilme über mehr oder weniger verdiente Deutsche entstanden. So spielte Ufa-Star Emil Jannings 1939 den Mediziner Robert Koch, sein Kollege Werner Krauss verdingte sich 1943 als Doktor Paracelsus, Hans Albers mimte 1941 den berüchtigten Kolonisator Carl Peters, und der auch nach 1945 gut beschäftigte Regisseur Wolfgang Liebeneiner inszenierte 1940 einen Biografiefilm über den Eisernen Kanzler Otto von Bismarck.

Erst seit ein paar Jahren bedient das Bio-Pic-Gewerbe im deutschen Fernsehen auch jenen »Hunger nach Geschichte jenseits der Nazi-Zeit«, den zum Beispiel die grüne Bundestagsabgeordnete Grietje Bettin, 28, verspürt. So spielte etwa Ulrich Tukur 1993 den legendären SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, 2001 gab Heiner Lauterbach den Verleger Axel Springer, Armin Mueller-Stahl machte im gleichen Jahr Thomas Mann lebendig. Erst vor vier Wochen schließlich versuchte sich Michael Mendl als Wiedergänger von Willy Brandt.

Doch ist das Interesse für solche Figuren tatsächlich Ausdruck eines »neuen Nationalgefühls«, von dem die Bestseller-Autoren Michael Miersch und Dirk Maxeiner schreiben, es schwanke »zwischen moralischer Überheblichkeit und kindlichem Trotz«?

Tatsache ist, dass jüngere Deutsche mit nationalen Symbolen und Heldenmythen eher unbefangen umgehen. Bei der Berliner Popband Wir sind Helden ist der Name Programm; die Kölner Modedesignerin Eva Gronbach, 32, fühlt sich dem »Ausdruck eines neuen, positiven Deutschland-Bildes« verpflichtet. Ihre Idee: »Ich nehme alte Symbole und lade sie mit neuer, positiver Bedeutung auf.« Tatsächlich prangt auf Gronbachs Pullovern zum Beispiel ein magerer Deutschland-Adler, offenbar ein armer Verwandter der »Fetten Henne« im alten Bundestag. Andere Pullis - Modell »Fahne«, 169 Euro pro Stück - sind ganz in Schwarz-Rot-Gelb gehalten. »Was vorher als hässlich galt«, hofft Gronbach, »wird schön.« Nun herrsche »ein fröhlicher Equilibrismus mit Nationalem und Natürlichem auf einer Augenhöhe«, jubelte die »FAZ«.

Anders als die mit lokalpatriotischen Schriftzügen bedruckten Klamotten, deren Besitzer sich zu »Hamburg« oder »Berlin« bekennen - ganz Mutige tragen »Hannover«-, wirkt Gronbachs Kombi-Nation allerdings doch noch etwas verklemmt.

Verklemmung und Peinlichkeit kennzeichneten schließlich auch die nationale Helden-Erhebung des ZDF. »Unsere Besten« verglich Äpfel mit Birnen und Pflaumen und kochte die Kunst, die Politik, die Wissenschaft und die Moral in unvergleichbaren Epochen zu Zahlenbrei zusammen.

Von Bach, so suggerierte die Sendung, muss man eigentlich nur wissen, ob er deutschheldenmäßig größer ist als Sophie Scholl oder Goethe. Die Helden des ZDF brauchen ein Ranking, eine Platznummer - in solchen hirnlosen Spielen spiegelt sich eine Gesellschaft wider, die Studien- und Arbeitsplätze nach Viertelnoten vergibt. Dabei zerstört die Fernseh-Ver-Rankung, was sie eigentlich zu befördern versucht: Der Held tut etwas Unvergleichliches, er überschreitet den Horizont des Für-Möglich-Gehaltenen, sprengt den Rahmen der Wirklichkeit.

»Das Wunder von Bern« und »Das Wunder von Lengede« zeigen solche Überschreitungen weniger als von oben geschenkte Mirakel, sondern als entschlossene Taten. Deutsch zu sein hat demnach mit der Kraft der Enge zu tun, mit dem geduldigen Leben hinter Schranken, die im entscheidenden Moment überwunden werden.

Erst dann bricht aus schweißiger Männerkabine eine Truppe hervor, die die Genialeren besiegt, die in Lengede dem sicheren Tod ein Schnippchen schlägt oder im Fall des kleinen großen Augustinermönchs das Christentum erneuert.

NIKOLAUS VON FESTENBERG, MARTIN WOLF

* In der Kollektion »mutter erde vater land« von Eva Gronbach.

Zur Ausgabe
Artikel 79 / 112
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten