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FORSCHUNG / GENETIK Helden zu Hunderten

aus DER SPIEGEL 43/1968

Ungeordnete Familienverhältnisse mußte Dr. John B. Gurdon seinen Labor-Tieren bescheinigen: Die Jungfrösche, die sich in den Terrarien tummelten, waren ohne Zutun eines männlichen Frosches produziert worden. Sie waren gleichsam Geschwister ihrer Mütter.

Mit solch verquerem Stammbaum veranschaulichte Gurdon, Zoologie-Professor an der britischen Oxford-Universität, das Ergebnis von Experimenten, die fast an das Gruselkabinett eines Science-fiction-Romans erinnern -- etwa an die Menschenfabriken in Aldous Huxleys »Schöner neuer Weit«, in denen ganze Serien von arbeitswilligen Epsilon- und Alpha-Menschen aus Zell-Rohmaterial gefertigt werden.

Zoologe Gurdon hatte mit afrikanischen Spornfröschen (Xenopus laevis) experimentiert. Er entnahm der Darmwand der Frösche einzelne Zeilen. Sodann löste er, wie einen Kirschkern aus der Frucht, aus diesen Zellen den Zellkern heraus; er enthält die Chromosomen, die Träger der Erbinformation.

Den herausoperierten Zellkern verpflanzten Gurdon und seine Mitarbeiter sodann in eine unbefruchtete Frosch-Eizelle, deren eigener Kern zuvor durch Bestrahlung zerstört worden war.

Das Unwahrscheinliche geschah: Der Kern der Darmzelle, die an ihrem ursprünglichen Platz nur wieder neue Darmzellen hervorgebracht hätte löste in der Eizelle alle Wachstumsvorgänge aus, die zur Entwicklung eines kompletten Lebewesens nötig sind. Es entstand eine vollständig ausgebildete Kaulquappe.

Das Experiment bewies, daß sich aus einer einzigen tierischen Körperzelle -- ohne Befruchtung -- gleichsam ein Ableger, ein mit dem Zellspender identisches Lebewesen züchten läßt. Entsprechend könnte ein winziger Zellklumpen ganze Hundertschaften zwillingsgleicher Abkömmlinge hervorbringen.

Eine Erklärung dafür liefern die neuen Erkenntnisse der Genetik. Danach sind in jeder beliebigen Körperzelle, obwohl sie innerhalb des Organismus auf bestimmte Aufgaben spezialisiert ist, die Erbinformationen für alle Merkmale des betreffenden Individuums gespeichert. Nur liegen normalerweise die meisten Vokabeln dieses genetischen Codes brach -- soweit sie nicht zur Neubildung des jeweils speziellen Zelltyps gebraucht werden,

Kommt aber die derart spezialisierte Informationszentrale (Zellkern mit Chromosomen) in die ihr fremde Umgebung einer Eizelle. so werden die vorher ungenutzten Erbinformationen wieder aktiviert. Der ins Ei überpflanzte Zellkern kann, wie die Versuche an der Oxford-Universität deutlich machen, nunmehr den Aufbau eines kompletten Individuums in Gang setzen und steuern.

Schon siebenmal war Gurdon bei Spornfröschen diese ungewöhnliche Art der Vermehrung unter dem Mikroskop gelungen, als er 1966 (zusammen mit dem Schweizer Zoologen Dr. V. Uehlinger) in der britischen Wissenschaftszeitschrift »Nature« erstmals darüber berichtete. Damals hatten etliche Biologen noch Bedenken gegen die Gurdonschen Versuchsergebnisse geäußert.

Aber Anfang dieses Monats meldete Gurdon, das Ergebnis seiner Experimente sei nicht länger zweifelhaft: Mehr als 30 Prozent der Frosch-Eizellen mit eingepflanztem Darm-Zellkern haben sich in Reihenversuchen zu lebensfähigen Kaulquappen entwickelt. In ein bis zwei Prozent der Fälle wuchsen sogar -- trotz der noch groben Operationstechnik beim Einpflanzen des fremden Zellkerns -- normale geschlechtsreife Spornfrösche heran.

Bei Pflanzen war der Versuch, schlummernde Teile des Gen-Gedächtnisses aufzuwecken, schon früher unternommen worden. So konnte vor knapp einem Jahrzehnt der Botanik-Professor Frederick C. Stewart von der New Yorker Cornell-Universität beispielsweise Karotten-Zellen, die sich normalerweise nicht mehr vermehren, zu neuerlicher Teilung anregen. Es bildeten sich (in einer mit Kokosmilch versetzten Nährlösung) zunächst Gewebehäufchen, dann (in Freilandbeeten) komplette Möhrenpflanzen. Und ähnlich züchtete der amerikanische Botaniker A. C. Hildebrandt Tabakpflanzen aus -- spezialisierten -- Zellen des Tabakstengels, die sich normalerweise nur zur Bildung weiterer Stengelzellen teilen.

In beiden Fällen waren vollständige neue Individuen herangezogen worden. Daß die brachliegende genetische Information sich gleichsam teilmobilisieren läßt, glauben die Forscher bei einem anderen Naturphänomen beobachten zu können: wenn bei bestimmten Tierarten Teile des Körpers, die ihnen abhanden gekommen sind, wieder nachwachsen -- etwa bei Krebsen eine Schere, bei Eidechsen der Schwanz, bei Heuschrecken ein Fühler und bei manchen Würmern gar der Kopf.

Praktische Konsequenzen solcher Regenerationsfähigkeit schlug letztes Jahr der Mikrobiologe Leonard Hayflick von der Stanford-Universität in Kalifornien vor. Jedem Menschen, so regte Hayflick an, sollten bei der Geburt einige Quadratmillimeter Haut entnommen werden, Diese Zellen lassen sich in der Retorte weiterzüchten und können dann -- tiefgekühlt -- konserviert werden. Wenn etwa nach einem Unfall oder einer Verbrennung größere Wunden mit einem Hauttransplantat gedeckt werden müßten, stünde nach dem Vorschlag Hayflicks stets ein Gewebe zur Verfügung, das der Körper des Verletzten nicht abstoßen würde, da es von ihm stammt.

Eine kuriose Variante dieser Zukunftsaussicht existiert vorerst nur in der Phantasie des amerikanischen Wissenschaftsautors Walter Sullivan: pfannengerecht gewachsene, zart gezüchtete Filetsteaks serienweise aus der Retorte.

Geradewegs In Richtung Homunkulus bewegte sich dagegen der amerikanische Nobelpreisträger Joshua Lederberg mit einer Prophezeiung, die er im vorigen Jahr wagte. Durch geeignete Reizung des Zellwachstums, so erläuterte der Genetiker, müßte es dereinst möglich sein, auch beim Menschen beispielsweise eine verstümmelte Hand oder ein vorzeitig verbrauchtes Herz nachwachsen zu lassen -- ähnlich wie sich bei manchen Insekten-Arten Fühler und Beine regenerieren.

Daß solches zumindest bei einer Säugetier-Art experimentell bereits gelungen ist, berichtete im Juli dieses Jahres der Biologe Dr. Merle Mizell von der Tulane-Universität in New Orleans: Neugeborenen Opossums, denen eine Hinterpfote amputiert wurde, wuchs eine zweite, wenn auch etwas verkümmerte Pfote nach, wenn in die Wunde Nervengewebe eingepflanzt worden war.

Die vollständigen Spornfrösche, die Zoologe Gurdon unterdes in seiner Homunkulus-Phiole züchtete, gemahnen freilich noch viel eher an Huxleysche Visionen. »Wäre es wünschenswert, einige hundert Kopien von den Idolen und Geistesheroen unserer Zeit anzufertigen?« fragte Anfang dieses Monats der amerikanische Genetiker Professor James F. Crow. »Wer soll die Spender für diese Art der Fortpflanzung auswählen, wer bestimmen, ob wir Männer oder Frauen produzieren sollen?«

Zwei Einsichten jedenfalls hält Crow für zeitgemäß: »Dies sind keine rein akademischen Fragen mehr.« Und: »Wissenschaftler allein können die nötigen Entscheidungen nicht treffen.«

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