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UNFALLFORSCHUNG Helm auf

aus DER SPIEGEL 44/1965

Im Testlabor ertönt das Zischen ausströmender Preßluft. Der Versuchsschlitten, dem ein Autofahrersessel aufmontiert ist, gleitet mit einer Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometer über die Schienen des Experimentierstandes. Im Sessel sitzt ein Toter.

Ruckartig stoppt der Schlitten - knapp vor dem Armaturenbrett einer Personenwagenmittelteil-Attrappe, in die das Testgefährt wie in eine Garage eingefahren ist. Der leblose Fahrgast, ein Neger, wird gegen die Windschutzscheibe katapultiert. Sein Kopf durchschlägt sie.

Männer in weißen Kitteln lesen Daten ab von zahlreichen Meßinstrumenten, deren Kontakte am Körper der Versuchsperson angebracht sind. Dann protokollieren sie die beim Durchstoß der Windschutzscheibe entstandenen Verletzungen: Jochbein, Jochbeinbogen und alle Nasenknochen sind gebrochen. Die Nase ist nahezu abgetrennt. Eine tiefe Wunde klafft an der Stirn. Das rechte Augenlid ist gespalten.

Das grausliche Experiment war Routinebestandteil der ungewöhnlichsten und aufwendigsten Untersuchung, die im Dienste der Unfallforschung je unternommen wurde. Seit vier Jahren müht sich ein Team von 20 Wissenschaftlern des Biomechanischen Forschungsinstituts der Wayne State University in der US-Automobilstadt Detroit, die Entstehung aller Arten von Unfallverletzungen bei Automobilinsassen zu ergründen. Dabei wurden zum erstenmal in der Geschichte der Automobilindustrie für die Unfallforschung menschliche Leichname verwendet.

»Sowohl hinsichtlich des Aufwandes und der Ausrüstung als auch hinsichtlich der Methoden« hat die Untersuchung der Detroiter Unfallforscher, wie Direktor Karl Wilfert, Leiter der Karosserieentwicklung der Stuttgarter Daimler-Benz AG, erläuterte, »keine Parallele in Europa.«

Professor Lawrence Patrick, 45, einer der leitenden Wissenschaftler der Versuchsreihen von Detroit, berichtete unlängst im Mercedes-Karosseriewerk Sindelfingen über den Stand seiner Forschungen.

Große Automobilfirmen in Europa wie in den USA unternahmen 'bereits seit langem Experimente, um die fatalen Wirkungen der bei einem Automobilaufprall auftretenden Stoßenergie zu erforschen. So ließ zum Beispiel die Daimler-Benz AG schon seit dem Jahre 1960 häufig Serienwagen gegen Hindernisse prallen oder sich überschlagen.

Filmkameras hielten den genauen Ablauf der nachgeahmten Unfälle fest. In den Versuchswagen saßen menschengroße Testpuppen aus Kunststoff. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden jeweils bei der Entwicklung neuer Typen mit berücksichtigt. Die Mercedes -Ingenieure etwa richteten Bug- und Heckteile ihrer Karosserien so ein, daß sie sich beim Aufprall leicht verformen und dabei schon einen erheblichen Teil der verhängnisvollen Bewegungsenergie vernichten konnten.

Mehr oder minder konsequent gingen alle Autohersteller dazu über, die innere Sicherheit ihrer Fahrzeuge zu vergrößern: Bedienungsknöpfe und Griffe wurden versenkt installiert, Hebel versetzt, Aufprallflächen vergrößert, Kanten mit Schaumstoffpolstern abgedeckt und dadurch entschärft.

Immer wieder erwies sich jedoch, daß die mit Testpuppen gewonnenen Meßresultate nur einen begrenzten Aussagewert haben. Der menschliche Organismus ist zu kompliziert, als daß man in allen Details von der Reaktion einer Kunststoffpuppe auf die Unfallverletzungen beim Menschen schließen könnte.

Eine Forschungsgruppe der Cornell -Universität in Buffalo (US-Staat New York) erfaßte deshalb in einer großangelegten statistischen Studie nach und nach rund 50 000 Unfälle, jeweils unmittelbar oder nur kurze Zeit nachdem sie geschehen waren. Dadurch wurden erstmals direkt an der Unfallfront Schwerpunkte ermittelt: 33 Prozent aller Unfallverletzungen rührten vom Lenkrad und von der Lenksäule her, 23 Prozent vom Armaturenbrett und 17 Prozent von der Windschutzscheibe.

Amerikas Automobilfirmen beauftragten drei Universitäten, diese Art von Unfallforschung auf biomechanischer Grundlage weiter voranzutreiben, und Biomechaniker der Universitäten von Los Angeles, Minneapolis und Detroit bildeten eine Arbeitsgemeinschaft. Um genaue Ergebnisse zu erhalten, ließen die Forscher preßluftbeschleunigte menschliche Leichname gegen Steuersäulen, Schalthebel, Fensterpfosten, Armaturenbretter und Windschutzscheiben prallen.

»Da der Kopf am meisten des Schutzes vor Verletzungen bedarf« (so Professor Patrick), befaßte sich das Forscherteam besonders intensiv mit den Kopfverletzungen. Auf sie entfallen, wie schon die Unfall-Reporter der Cornell-Universität ermittelt hatten, rund 70 Prozent aller Automobilunfall-Verletzungen.

Die Forscher ließen trockene Menschenschädel so lange mit immer größerer Beschleunigung auf Stahlblöcke aufschlagen, bis die für Brüche erforderlichen Stoßenergien und Aufprall geschwindigkeiten ermittelt waren. Köpfe von Leichnamen, bei denen die Forscher zum Teil auch das Gehirn entfernt und durch eine Gelatinemasse gleichen spezifischen Gewichts ersetzt hatten, nahmen gegenüber Trockenschädeln mehr als das Zehnfache an Stoßenergien auf, ehe sie brachen.

Aufprallversuchen Professor Patricks, bei denen Leichen gegen Windschutzscheiben geschleudert und die genauen Bewegungsabläufe gefilmt wurden, verdankt Detroit einen der ersten praktischen Erfolge der Untersuchungen. Aufgrund der Testergebnisse wurde eine neuartige Verbundglasscheibe entwickelt. Sie ist elastischer als die bis dahin eingebauten Scheiben und kann mehr Stoßenergie vernichten.

Patricks Pauschalurteil über Amerikas Automobile: »Nach wie vor unsicher.«

»Sicherheitsgurte müßten gesetzlich vorgeschrieben werden«, empfahl der Unfallforscher. Und: »Kein Autofahrer sollte sich ohne Sturzhelm ans Steuer setzen.«

Aufprall-Test mit bandagiertem Leichnam in Detroit. Gelatine im Gehirn

Aufprall-Test mit Puppen bei Mercedes: Gefahr im Griff

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