Peter Faecke über Günter Kunert: "Im Namen der Hüte" HENRY UND DIE HOMINISTEN
Das tut wohl: da schreibt einer rund fünfzehn Jahre mit Erfolg Lyrik, kurze Prosa, Aufsätze, Fernsehspiele und sieht dabei gelassen der Jagd auf den Roman, sieht gelassen den jährlichen Debütanten zu, die sich, da Verleger landauf, landab dasselbe Losungswort für sie haben, nicht vorstellen können, mit etwas anderem als eben einem Roman zu beginnen, auch wenn er nur aus 120 Seiten und einer Reihe leerer Blätter besteht.
Da sieht einer zu, schreibt nach rund fünfzehn Jahren den ersten Roman, nennt ihn »Im Namen der Hüte«, hat sich Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre vorgenommen, verwendet, während andere von Pop-, Comicstrip-, Ciné- und Dokumentar-Roman reden, das alte Schelmenmotiv: wessen Kappe einer trägt, dessen Gedanken kann er lesen -- und läßt zunächst auf ein kräftiges Buch hoffen, weit genug von den klassischen Erzähltechniken, weit genug auch von der Mode einer Saison entfernt.
Und tatsächlich, das »Ereignis des ersten Satzes«, über das sich Kritiker stets so freuen, tritt ein: »Ein Kreisen, Drehen, Aufschwingen unter dem allzu leeren Himmel: Gott ist vom Flakbunker Friedrichshain aus abgeschossen worden. Die Reste wurden am Boden zerstört. Wolken haben wir noch, aber die sind ohne Tauschwert.«
Dieses Kreisen, Drehen, Aufschwingen wird auf den ersten Seiten variiert, es rhythmisiert die Geschichte des Volkssturmgardisten Henry in Berlin, dem es durch Überstülpen eines Pferdehutes gelingt, seine Potenz so zu steigern, wie es in der Regel nur von Hengsten erwartet wird; Henry, der durchs Medium einer Mütze vom Leben und von der Ermordung seines Vaters erfährt, der schwarzhandelt, hungert und schließlich, durch das Tragen fremder Hüte, hellzusehen beginnt, zunächst auf eigene Rechnung, dann auf die der »Hoministen«, einer Vereinigung mit der himmelblauen Ideologie der Stunde Null, und der schließlich, verheiratet, verbürgerlicht, umsorgt, seine Hellseher-Fähigkeiten und selbst das Verlangen danach verliert. Was in diesem Roman geschieht, ist schon so oft in den Romanen jüngerer Autoren geschehen, daß man ihnen schließlich den nach rückwärts gerichteten Blick vorwarf und sie tadelte, weil sie die Bücher ihrer Väter schrieben (die diese freilich vergessen hatten zu schreiben).
Hat es sich Günter Kunert also schon mit dem Stoff dieser Geschichte schwer gemacht, der, dutzendfach auf gegriffen, bearbeitet und teilweise verdaut, kaum noch eine neue Variation zuzulassen scheint, so hat er es sich mit dem Entschluß, ein Schelmen-Motiv als Faden durch die Nachkriegsjahre zu benutzen, noch schwerer gemacht. Denn: dieses Motiv verlangt epische Breite, Phantastik, es verlangt einen Erzähler, der mit den Zähnen knirschen kann, wenn sein Vater, wie in den »Hundejahren«, weissagenden Mehlwürmern lauscht.
Aber Günter Kunert hat sich für keinen Erzähler entschließen können; hier berichtet kein verwaister, listiger, verzweifelter oder glücklicher Henry über das, was er von den Hüten lernt; hier verrät sich kein Besessener, keiner redet im Fieberwahn oder mit der Narrenkappe: hier wird wie im 19. Jahrhundert erzählt, distanziert und allwissend. Ein Allgegenwärtiger berichtet, und wenn die Handlung (ohnehin zäh, zu skrupelhaft gebaut, mit zuwenig Falltreppen ausgestattet, mit zuwenig blinden Gängen, in denen sich Leser verirren könnten, um plötzlich zum Beispiel einem neuen Henry gegenüberzustehen) gar nicht mehr weitergehen will, kommt irgendein Bote mit irgendeinem Schreiben wie auf der Bühne hab sie selig.
Und trotzdem halte ich Günter Kunerts ersten Roman für eines der lesenswertesten Bücher dieses allerdings recht mageren Herbstes; nicht um damit auf die Linie jener einzuschwenken, die ständig zur Behutsamkeit gegenüber DDR-Autoren mahnen (denen damit Scheuklappen aufzwingen), und die sich doch nur, Peter Jokostra allen voran, eine Scheibe für die eigene Speisekammer abschneiden wollen.
Trotz des konventionellen Handlungsablaufs und trotz der konventionellen Erzählhaltung hat mich dieses Buch wegen seiner Sprache fasziniert, die mit einem Kreisen, Drehen, Aufschwingen beginnt und die bis zur letzten Seite nichts von ihrer Intensität, ihrem Stakkato einbüßt. Kurze, aneinandergeschobene, verknappte Sätze, selten ein ruhiger Infinitiv oder ein gemächlich schmückendes Adjektiv, kaum eine Dialog-Unterbrechung, gar keine Pausen: hier wird so geschrieben, wie andere schießen, hier wird, um es beschreiben zu können, mit Wörtern zerhämmert, was zuvor mit Waffen zerhämmert worden ist.
Freilich kommt es bei dieser Methode auch zu ganz überflüssigen Anhäufungen. Da stehen vier mäßig genaue Worte an Stelle eines sehr genauen, und der Leser ermüdet schnell unter dem bis auf den Anfang kaum durch verschiedene Rhythmen variierten Beschuß. Auch ärgern viele der verknappten Sätze, da sie nicht, wie etwa bei Beckett, wirkliche, im äußersten Fall nur noch aus einem Seufzer oder aus einem Lautwort bestehende Reduktionen, sondern -- zumeist nicht einmal sonderlich komische -- Luftgefechte sind, etwa: »Als die Mutter gestorben, war keine Leiche als Ergebnis ihres Todes greifbar.«
Das alles geht sehr gespreizt daher, und man tut gut daran, schnell umzublättern, wenn man daran glauben will, daß Kunerts nächster Roman dort weitergehen wird, wo dieser aufgehört hat: am Beginn der Gegenwart.