Herlinde Koelbl Spuren des Lebens

Als die Fotografin Herlinde Koelbl, 82, die damals nahezu unbekannte Angela Merkel zum ersten Mal fotografierte, fiel ihr auf, wie ungelenk die neue Ministerin aus Ostdeutschland sich vor der Kamera verhielt, wie sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen. Es war das Jahr 1991, Helmut Kohl hatte die 37-jährige Merkel gerade in sein Kabinett geholt, und Koelbl wollte mit ihr über Macht sprechen und sie, wie einige andere Politiker auch, über einen längeren Zeitraum einmal im Jahr fotografieren. Merkel sah zunächst keinen Sinn in dem Vorhaben, schreibt Koelbl im Vorwort ihres gerade im Taschen Verlag erschienenen Fotobands »Angela Merkel. Portraits 1991–2021«. Sie hat trotzdem mitgemacht, vielleicht aus merkelschem Pflichtbewusstsein, vielleicht auch, weil die Wissenschaftlerin in ihr unterbewusst doch etwas in der Versuchsanordnung erkannte, deren Objekt sie selbst war.

Noch einmal loslegen
Viele träumen um Silvester von einem neuen Leben, manche wagen auch den Sprung – wie die Ex-Buchhalterin Katrin Bernat, die ein Unternehmen gründete. Auch im Großen, in der Politik, gibt es ambitionierte Vorhaben. Doch so verlockend Neues wirkt, die Hürden sind oft hoch. Was braucht es, sie zu überwinden?
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Auf jenem ersten Bild aus dem Oktober 1991 trägt Merkel noch eine Strickjacke über dem Rollkragenpullover, und es ist fast irritierend, sie ohne den Blazer mit den großen Clownsknöpfen der späteren Regierungschefin zu sehen. Auf dem Foto von 1998 tauchen zum ersten Mal die Hände in Rautenformation auf, allerdings noch etwas gekünstelt, es fehlt noch an der Selbstverständlichkeit. Danach kommt eine Lücke. Koelbls ursprüngliches Projekt »Spuren der Macht« war fertiggestellt.
Erst 2006 mit Merkel als Kanzlerin setzt die Porträtserie wieder ein, ein gewaltiger Sprung: Der Blazer ist da, die Halskette, und der Blick ist ein anderer, kein suchender mehr, allenfalls selbstbewusst fragend. Der Kopf neigt sich immer stärker nach rechts, während linker Mundwinkel und linkes Augenlid nach oben ziehen, sodass ein beinahe verschmitzter Ausdruck entsteht. 2021, genau 30 Jahre nach dem ersten Foto, entstand das letzte Porträt, und darauf sieht es fast so aus, als zwinkerte das scheidende Untersuchungsobjekt der Fotografin zu.