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Herr Kunze und sein Knecht Hinze

Rolf Schneider über den »Hinze-Kunze-Roman« von Volker Braun Der »Hinze-Kunze-Roman« ist das erste große Erzählwerk des DDR-Dramatikers Volker Braun, 46. - Rolf Schneider, 53, lebt als freier Schriftsteller in Ost-Berlin. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Jedes Jahr, das der Kalender werden läßt, leistet sich die DDR eine neue literarische Affäre. Ihr Inhalt besteht darin, daß ein schöngeistiger Text politisches Mißfallen erregt, woraufhin man ihm ästhetische Mängel vorwirft und ihn indiziert. Der Vorgang ist geeignet, den Text-Urheber mit dem prestigefördernden Glanz des Martyriums auszustatten. Dankbare Schlagzeilen in der Bundesrepublik sind ihm gewiß.

Jahrelang neigte ich dazu, in alledem einen überflüssigen Greuel zu sehen, nicht einmal tauglich als Beweis, daß hier, wenigstens hier der schöne Geist befähigt sei, öffentlich-politische Wirkung zu tun. Was würde sein, dies als Denkfigur, wenn es Alexander Solschenizyn gefiele, auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz ungehindert, dabei verstärkt durch Mikrophon und Übersetzer, einen rednerischen Auftritt zu haben? Es gäbe gewiß einen Volksauflauf, der sich ebenso gewiß wieder auflöste. Das, nur das wäre es dann.

Der hinter allen DDR-Literatur-Affären lauernde Verdacht, unbotmäßige Dichtertexte könnten die bestehenden Machtverhältnisse beschädigen, ist das Resultat einer beklagenswerten Unbildung. Sie fußt auf der Annahme, ein beschriebenes Ereignis sei schon ein tatsächliches oder mögliches, was nicht bloß eine plump idealistische Denkungsart offenbart, sondern den Rückfall in die atavistischen Zustände der Wortmagie.

Dieses für wissenschaftliche Marxisten unbegreifliche Verhalten hat mich inzwischen veranlaßt, die Literaturaffären meines Landes nicht mehr scheußlich, sondern possierlich zu finden. Wozu auch der Umstand beiträgt, daß infolge ständigen Gebrauchs die Effekte sich abnutzen.

Beweis sei die Affäre dieses Herbstes. Sie betrifft den »Hinze-Kunze-Roman« von Volker Braun. Dem Buch wurde in der DDR, wo belletristische Neuerscheinungen sonst in eine Wüstenei aus rezensorischem Schweigen fallen, noch vor Erscheinen viel publizistische Flankierung zuteil. Ein ausführliches Nachwort aus Kritikerhand wurde ihm angefügt. Ein Mann mit Ministerrang äußerte sich mehrfach in einem Wochenblatt. Eingestandenes Motiv war die öffentliche Beschwichtigung, doch dem spröden, durchaus leserabweisenden Roman wurde eben dadurch jene gereizte Aufmerksamkeit bereitet, die es zu verhindern galt.

Im »Neuen Deutschland«, der mächtigsten Zeitung im Land, erschien gleich ein Verriß unter dem Titel »Wenn Inhalt und Form zur Farce gerinnen«. Volker Braun wurde des Utopismus, der Anarchie, der Kleinlichkeit geziehen, in der DDR bis vor kurzem Urteile zum geistigen Tod.

Alsbald orderte das zentrale DDR-Buch-Grossohaus alle noch verfügbaren Hinze-Kunze-Bücher bei den Sortimentern zurück, von zehntausend ausgelieferten Exemplaren kamen gerade 450. Öffentliche Bibliotheken nahmen den »Hinze-Kunze-Roman« aus den Regalen. Wenigstens dies wurde inzwischen rückgängig gemacht.

Nun tritt die Verfasserin des Artikels im »Neuen Deutschland«, für jeden Eingeweihten mühelos zu entschlüsseln, in Brauns Roman als handelnde Person auf und findet dort wenig Gnade. Ihr Verriß war ein Racheakt. Das SED-Zentralorgan gab ihr dafür das Podium ab.

Was aber außer dem verletzten Selbstgefühl einer Professorin provoziert Volker Brauns Buch denn noch? Nicht viel. Die Herausforderung ist eher formaler Art, und wo sie vom Inhalt kommt, ist sie gar nicht unerhört.

Volker Braun trat in die deutsche Literatur der sechziger Jahre ein mit Gedichten, darin das Urbarmachen feuchter Wiesen durch junge Sozialistenhände gefeiert wurde, im Stil des Wladimir Majakowski. Das Vorbild des Kaukasiers tauschte Braun bald aus durch einen anderen Panegyriker, diesmal einen erfundenen. Es war der Dichter Baal aus Brechts gleichnamigem Jugenddrama, das in der DDR-Belletristik auch sonst Folgen und Nachfolger zuhauf gestiftet hat.

Als Brecht-Schüler der zweiten oder dritten Generation entwickelte Volker Braun die brechtische Technik des Adaptierens. Sein erster Versuch galt wieder dem »Baal«; in mehreren Anläufen machte er ihn zum Modell eines Stückes aus der DDR-Arbeitswelt, »Die Kipper«. Er blieb beim Schreiben von Stücken, von denen bloß jedes zweite veröffentlicht, jedes dritte gespielt wurde. In der Wahl seiner Sujets war er nicht kleinlich. Unter Lenin oder Che Guevara tat er es ungern.

Eine seiner Adaptationen hieß »Hans Faust«. Es ging um einen anarchistischen Bauarbeiter, dem als mephistophelische Figur, die stets Gutes schafft, ein kommunistischer Funktionär namens Kunze beigeordnet war. Da der Goethe-Bezug als unbillige Respektlosigkeit empfunden wurde, mutierte Faust zu Hinze. Als »Hinze und Kunze« war das erst ein Stück, dann eine Parabel-Sammlung aus dem Geiste der »Keuner-Geschichten« und »Flüchtlingsgespräche« Brechts, nun ist es der Stoff zu einem Roman.

Die einstige Faust-Analogie hat sich verflüchtigt, statt dessen dient als wichtiges Adaptionsmuster »Jacques le fataliste et son maitre« von Denis Diderot. Dieser episch angereicherte philosophische Traktat gilt, seiner offenen Form wegen, als Archetypus der problematisierten Romane unseres Jahrhunderts. Der fatalistische Jacques ist ein Domestik. In Diderots Buch geht es um das Verhältnis von Knecht und Herr.

Die beiden sind zu Pferde unterwegs, was sie erleben, ist ihnen Anlaß für platonische Dialoge. Brauns Jacques heißt Hinze und ist ein ins DDR-Proletariat gefallenes Angestellten-Kind. Sein Herr, Kunze, ist ein zum DDR-Staatsfunktionär arrivierter Plebejer. Statt zu reiten bewegen sich die zwei in einer schwarzen Limousine der tschechoslowakischen Nobelmarke Tatra, mit Hinze am Steuer, mit Kunze im Fond. Kunzes genaue Tätigkeit wird absichtlich verschwiegen.

Sein Wagentyp gibt dem Kenner Auskunft: Tatra ist im protokollarisch peniblen DDR-Politapparat das Gefährt der Staatssekretäre und stellvertretenden Minister. Andere Andeutungen ergeben: Kunze hat mit Wirtschaft zu tun.

Was Volker Braun als Handlung anbietet, zeigt sich so: Die beiden fahren quer durch die DDR und deren Hauptstadt, dabei reden sie viel. Hinze hat eine appetitliche Frau, Lisa, auf die Kunze erotischen Hunger entwickelt; unter Mithilfe seines Fahrers Hinze gelangt er zum Ziel. Eine Weile ist das eine sozialistische menage a trois, dann wird sich Lisa in die höheren Ränge der Leitungswissenschaften hineinqualifizieren, ein Kind zur Welt bringen und die beiden Männer verlassen.

Dieser nach Brechts, Martin Walsers und des DDR-Romanciers Paul Gratzik einschlägigen Arbeiten vierte literarische Beitrag zum Thema des Dienstfahrers hat eine magere Fabel. Volker Braun reflektiert sie gelegentlich zu Tode, in ausführlichen Hinze-Kunze-Gesprächen, in ebenso ausführlichen Autoren-Kommentaren.

Die Gespräche leiden daran, daß sie - im Widerspruch zur erklärten Absicht Brauns, reine Kunstfiguren zu wollen - mit Jargon versetzt und konversationell aufgeweicht werden, worauf die philosophischen Pointen sich oft ins Unkenntliche verflüchtigen. Abgesehen davon, daß eine Marionette mit naturalistischer Zunge im Mund einen etwas sonderbaren Eindruck macht.

Hinze ist, von gelegentlich geistreichen Repliken abgesehen, eine dumpfe Knechtsnatur, unfähig zur Auflehnung und das Gegenteil von Diderots Jacques, der die Schicksalsergebenheit zwar predigt, aber nicht lebt. Hinzes Apathie gipfelt darin, daß ihm der omnipotente Herr die Frau stehlen darf. Zur Kompensation kriegt er eine von dessen abgelegten Freundinnen. Damit fällt Hinze geistesgeschichtlich zurück auf die unerschütterliche Stupidität alter Diener-Gestalten wie Lazarillo und Truffaldino. Zwischen denen und unserer Zeit steht Figaro. Hinze ist ein Figaro, der dem Grafen Almaviva die Braut opfert und, Hände im Schoß, seine Selbstbefreiung verdöst.

Aber vielleicht will Volker Braun auch bloß die Handlungsunfähigkeit des ehemaligen Kleinbürgers denunzieren und eine vollzogene Emanzipation an seinem proletarischen Siegertypus Kunze dartun?

Kunze ist Bewohner eines Ost-Berlintypischen Bungalows und Gatte einer in Spießigkeit erstarrten Frau. Begabt mit einem unstillbaren Geschlechtstrieb, ist er jedem Weiberrock hinterdrein, beschläft Arbeiterin wie Studentin und verschmäht nicht die Rückbank des fahrenden Dienstwagens als Liebeslager. Vorübergehend dreht er durch und wird bei einem Kuraufenthalt wiederhergestellt. Bei einer Dienstfahrt nach Hamburg

strebt er ins Eros-Center, kauft sich dort eine Farbige und interpretiert das als Akt der Entwicklungshilfe und als Exempel äußerster menschlicher Freiheit.

Das liest sich, so berichtet, als handle es sich bei Kunze um einen jener regierenden DDR-Widerlinge, wie sie sich seit neuestem durch DDR-Romane bewegen. Bei Volker Braun liest es sich anders. Er liebt seine Figur, und wenn er dessen Erotomanie nicht billigt, so verurteilt er sie doch auch nicht. Sie hat eine schöne anarchische Unbekümmertheit. Volker Braun folgt damit seiner eigenen Tradition.

Große Sexualhuber sind seine Helden nämlich durchweg, es ist das, was sie mit Brechts Baal besonders innig verbindet. Als Volker Braun seine »Kipper« schrieb, wirkte in der von Walter Ulbrichts Prüderie ausgebleichten DDR-Kunst-Szene mit ihren drögen Leitfiguren derlei höchst erfrischend. Brauns Helden sind sich gleichgeblieben, die DDR hat sich gewandelt. Kein Film, kaum ein TV-Spiel mehr ohne ausführlich vorgeführte Kohabitation. Auf die DDR-Prüderie folgte der DDR-Voyeurismus. Verlogen sind sie beide.

Die rechte sexuelle Befreiung steht nämlich auch im deutschen Arbeiterund-Bauern-Staat noch aus, und das wird so bleiben, wenn sie, wie bei Volker Braun, überwiegend bloß auf einen sozialistischen Male-Chauvinismus hinläuft. Die patriarchalischen Strukturen der DDR würden nur bekräftigt, und nirgends ist Volker Braun darum so affirmativ wie hier. Er beweist es mit seinem von Arthur Rimbaud übernommenen priapeischen Hymnus. Im Ursprung war dies das trotzige Emanzipations-Pamphlet eines Homosexuellen. Bei Volker Braun wird daraus ein miefiger Henry-Miller-Verschnitt.

Zum Glück aber gibt es Lisa. Als weitaus plastischste Figur des Buches ist sie zugleich die sympathischste. Versehen mit viel Mutterwitz, emanzipiert sie sich auch darin, daß sie sich von ihren beiden geschwätzigen Beischläfern befreit. Mit Lisas Geschichte wird dem im Buche ausgebreiteten Machismo ebenso begegnet wie aller Fatalität. Es sind solche Figuren, auf die man in der DDR stolz ist, literarisch wie in der Wirklichkeit.

Volker Braun hat bessere und bösere Texte verfaßt als diesen. Nach der Rehabilitierung des dreißig Jahre lang verfemten Max Hölz ist sogar ein bißchen Anarchismus gestattet; man wird bald entdecken, daß es Volker Braun um nichts geht, als den zu diskutieren; die 450 eingezogenen Exemplare des »Hinze-Kunze-Romans« werden bald ihre DDR-Käufer finden. »Wissen die hauptamtlichen Leser in der DDR«, schrieb kürzlich die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »was sie an Brauns unverwüstlichem Optimismus haben und an seiner Treue?«

Ich denke.

Rolf Schneider

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