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MEDIZIN Hilfe vom Hamster

Ein gentechnisch hergestelltes Hormon soll Dialyse-Patienten vor Anämie bewahren. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Der Mann im blauen Blazer lobte das neue Heilmittel in den höchsten Tönen. Zwar sprach er als Laie, nicht als Wissenschaftler; doch im Gegensatz zu den Fachleuten neben ihm, die dazu aufmunternd nickten, hatte der Redner die heilsame Wirkung des Medikaments

am eigenen, chronisch nierenkranken Leib erfahren.

Ein halbes Dutzend Experten und, als Schlußlicht, einen zufriedenen Patienten hatte die Pharmafirma Cilag am Dienstag letzter Woche im Hamburger Hotel »Atlantic« aufmarschieren lassen - Zweck der Übung im prunkvollen »Senatszimmer": Den dort versammelten Pressevertretern sollte ein Medikament mit dem zungenbrecherischen Namen Erythropoietin vorgestellt werden.

Die von gentechnisch manipulierten Zellkulturen hergestellte Substanz, so erfuhren die Journalisten, diene der Behandlung von Anämie: Erythropoietin, kurz EPO genannt, ist ein Hormon, das im Organismus die Bildung von roten Blutkörperchen (Erythrozyten) stimuliert.

Von den Sauerstoff transportierenden Blutplättchen, deren Lebensdauer nur 120 Tage beträgt, zirkulieren rund 25 Billionen ständig im menschlichen Kreislauf. Zwei bis drei Millionen neue Erythrozyten entstehen pro Sekunde im Knochenmark - den Nachschub regelt die Steuersubstanz Erythropoietin, die vor allem in der Nierenrinde, teils aber auch in der Leber produziert wird.

Wissenschaftlern der amerikanischen Forschungsfirma Amgen war es vor einigen Jahren gelungen, das menschliche EPO-Gen zu isolieren und die Erbinformation in die Eierstockzellen chinesischer Hamster zu verpflanzen. Seither haben die Amgen-Forscher Zellkulturen herangezüchtet, die aus »geklonten«, identischen Kopien der manipulierten Hamsterzellen bestehen und die genügend Erythropoietin für klinische Untersuchungen liefern.

Unter Aufsicht der Cilag, einer Tochterfirma des amerikanischen Pharma-Multis Johnson & Johnson, wurde das Amgen-EPO inzwischen an 150 Patienten in zwölf europäischen Kliniken getestet - mit bestem Erfolg, wie die von der Cilag bestellten Experten in Hamburg versicherten: Der Wirkstoff aus der Gen-Küche, resümierte der Lübecker Physiologie-Professor Wolfgang Jelkmann, könne für blutarme Patienten zu einem wahren »Wundermittel« werden.

Helfen soll das Pharma-Wunder vor allem Kranken mit Nierenversagen, die regelmäßig zur Dialyse müssen. Weil bei der Blutwäsche auf die Dauer die roten Blutkörperchen ruiniert werden, sind die Patienten häufig auf Ersatz durch Bluttransfusionen angewiesen: Das, so werben die Cilag-Manager, könne den ohnehin schwer geplagten Dialyse-Patienten künftig dank EPO erspart bleiben und obendrein auch noch die Gefahr »einer Aids-Infektion durch verseuchte Blutkonserven«.

Dafür allerdings droht den Nierenkranken womöglich ein neues Risiko: Erythropoietin, so konstatierte unlängst der britische Mediziner A.E.G. Raine in der Fachzeitschrift »The Lancet«, steigere bei vielen Patienten den Blutdruck. Da hoher Blutdruck bei Nierenversagen den Krankheitsverlauf dramatisch verschlimmere, urteilt Raine, sei die EPO-Kur zumindest bei Hochdruck-Patienten »potentiell widersinnig«.

Raines Kritik hat den Optimismus der EPO-Hersteller bislang kaum gedämpft. Auch Aids- und Krebspatienten, Rheumatiker, Unfallopfer oder Kranke, die nach Operationen große Blutverluste erlitten haben, könnten nach Ansicht der Cilag-Experten von EPO profitieren. Doch was die Pharma-Branche derzeit weit mehr beschäftigt, ist ein noch unentschiedener Rechtsstreit zwischen der Firma Amgen und dem Genetics Institute of Cambridge in Massachusetts. Beide Parteien beanspruchen Patentrechte, die ihnen die Alleinherrschaft über den EPO-Markt sichern würden. Allein in den USA, so schätzen Fachleute, wären mit dem Hormonmittel jährlich rund 175 Millionen Dollar zu verdienen.

Die EPO-Behandlung, so taxierte letzte Woche ein Cilag-Sprecher, werde mit jährlich rund 15 000 Mark pro Patient »nicht billig« sein. Von den 20 000 westdeutschen Dialyse-Patienten sind 5000 auf häufige Bluttransfusionen angewiesen. Ihnen, glaubt der Würzburger Nierenspezialist Roland Schäfer, könne demnächst mit EPO geholfen werden - was die ohnehin hohen Dialyse-Kosten (etwa 100 000 Mark je Patient) um gut zehn Prozent steigern würde.

Obwohl die Langzeit-Effekte der EPO-Behandlung noch gänzlich unbekannt sind - die klinischen Tests laufen erst seit ein paar Monaten -, drängen die Hersteller auf den Markt. Auch die mit der Firma Amgen verkoppelte Cilag, die Anfang der siebziger Jahre mit ihrem Appetitzügler »Menocil« in einen Pharma-Skandal verwickelt war, hat es eilig: Spätestens im Frühjahr 1989 wollen die Cilag-Manager mit einem behördlich zugelassenen EPO-Präparat im Handel sein.

Doch schon vor der Zulassung durch die Arzneimittelwächter ist das »Wundermittel« EPO ins Gerede gekommen: Mit möglichem Mißbrauch der Substanz beschäftigte sich während der olympischen Winterspiele in Calgary die Doping-Kommission - Spitzenathleten, stets nach Aufputschmitteln schnüffelnd, hieß es dort, hätten den neuen Wirkstoff als Kraftspender benutzt.

Nachweisen ließ sich das nicht; doch die Doping-Kommissare warnten vorsorglich: Versuche, die Sauerstoff-Spediteure im Blut künstlich auf Trab zu bringen, gelten als Grund zur Disqualifikation.

Auch der Mann im blauen Blazer, der in Hamburg die EPO-Wirkung so wortreich pries, kommt längst ohne die Hormon-Krücke aus. Ihm wurde eine Fremdniere implantiert, die sein Blut zuverlässig entgiftet.

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