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PHILOSOPHIE / MARCUSE Hilfe von Arbeitslosen

Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am aller. wenigsten der Erzieher und intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen. Herbert Marcuse
aus DER SPIEGEL 25/1967

Mit dieser pathetischen Rechtfertigung der Rebellion wider den Welfare«- und »Warfare«-Staat, wider Wohlfahrt und Rüstung, schließt ein Essay, der im vorigen Jahr auf deutsch erschien. Innerhalb kurzer Frist wurde er zum Glaubensbekenntnis der aufsässigsten unter den aufsässigen Studenten von Berlin. Sein Titel: »Repressive Intoleranz"*.

Geschrieben hat den Essay Herbert Marcuse, Philosophie-Professor an der University of California und Honorar-Professor in Berlin, ein Amerikaner, der kurz nach Hitlers Machtübernahme, damals 35 Jahre alt, aus Deutschland floh, ein Schüler Edmund Husserls und Assistent Martin Heideggers« ein Nachfolger Karl Marxens und des Propheten Jesaja.

Just zu Beginn von Berlins heißem Sommer, just in diesen Tagen, da Deutschlands TV-Schauer angesichts des auf das Pflaster hingestreckten Benno Ohnesorg verstört nach dem Warum und Wozu fragten (Münchens »Süddeutsche": »Wofür ist er gestorben?"), erschien bei Luchterhand die deutsche Übersetzung eines neuen Werks von Marcuse: »Der eindimensionale Menschs"**. Es ist

> eine Anklage der »komfortablen, reibungslosen, vernünftig demokratischen Unfreiheit in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation«,

> ein emphatisches Plädoyer für eine von Mangel, Elend und Kriegen befreite Menschheit -- und

> ein Stimulans für Studenten, welche sich der »Großen Weigerung« (Marcuse) verschrieben haben.

»Marcuse«, so sagt denn auch Knut Nevermann, Altbürgermeister-Sohn aus Hamburg und Spitzenmann der Berliner Studenten, »bedeutet sehr viel für uns. Er ist ein Hintergrund für das, was wir tun.«

»Marcuse wirkt nicht durch persönliches Charisma, sondern allein als Text -- aber seine Texte sind brisant. Sie beteuern die Diskussion der Studenten und geben ihr eine Intensität. die an den Ernst erinnert, mit dem einst Talmud-Jünger den Text der

* Wolff/Moore/Marcuse: »Kritik der reinen Toleranz«. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main; 136 Seiten; 3 Mark.

** Herbert Marcuse: »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft«. Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied/Berlin; 284 Seiten; Leinen 16 Mark.

Thora auslegten.« So sieht es Professor Jacob Taubes, Religionssoziologe der Freien Universität, ein Vertrauter der Berliner Aufsässigen und ein Freund Marcuses. Taubes über das Werk des Freundes: »Die profane Interpretation einer prophetischen Erleuchtung.«

»Wolf und Lamm«, prophezeite einst Jesaja, »sollen weiden zugleich; der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen. Sie werden nicht schaden noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr.«

Ähnliches lehrt der Studenten-Prophet: »Daß die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft.«

Marcuses heiliger Berg: das »befriedete Dasein« von Mensch und Natur ein Ziel, das freilich auch, meint er, Gewalt legitimiert.

Marcuse: »Ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein »Naturrecht« auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.«

Marcuse ist Marxist -- aber einer, der den Glauben an das Proletariat als revolutionäre Kraft verloren hat.

So gibt er denn auch in seinem neuen Buch zu, daß die »grundlegenden Klassen« der kapitalistischen Welt -- Bourgeoisie und Proletariat -- »nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein scheinen«.

Dafür setzt er seine Hoffnung auf die »Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen«, die er ein »Substrat der Geächteten und Außenseiter« der modernen Gesellschaft nennt.

Und er meint offenkundig, daß sich dereinst die Intelligenz der Industriestaaten mit diesem »Substrat« verbündet und so einen Umsturz -- oder vorsichtiger: eine »qualitative Änderung« -- herbeiführt.

Diese Änderung, dieser neue Schritt in Richtung auf ein »befriedetes Dasein« ist, laut Marcuse, nötig weil möglich und möglich weil nötig: > möglich, weil die Entwicklung der modernen Technik nach Marcuses Meinung bei besserer, weil zentralisierter (sozialistischer) Organisation »ein Dasein in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse« in Aussicht stellt; > nötig, weil, wenn die moderne Gesellschaft diese ihr eigentlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht ausnutzt, künstliche Mittel -- wie Kriege und Krisen, manipulierte Ängste und Wünsche des Konsums oder des Sex -- dazu herhalten müssen, den »Kampf ums Dasein« und zugleich eine Überproduktion in Gang zu halten, die in Wirklichkeit sich der Sinnlosigkeit entgegenneigen.

So ist die moderne Industriegesellschaft laut Marcuse, obwohl ein Produkt hoher Rationalität, am Ende irrational und damit der Gewalt ausgeliefert -- freilich einer anonymen, die weder vom Bürgertum noch von der Arbeiterschaft als anstößig empfunden wird, weil sie »bequem« ist.

Gerade ihre Perfektion erweist, wie es Marcuses Lehrer Heidegger ausdrückte, daß die technische Gesellschaft die »Mitternacht einer Weltnacht« darstellt. Marcuse über den Freiburger Philosophen: »Heidegger ist der einzige, der denkt.«

Anders als in den kommunistischen Staaten, die sich bei der Unterdrückung bis heute noch des primitiven Mittels des »Terrors« bedienen, wird Gewalt im Westen laut Marcuse mit »nicht-terroristischen« Mitteln ausgeübt: mittels der Reklame, mittels der Presse und TV-Apparate, mittels der Parteien oder auch mittels des »Managements der Libido«.

Für alle diese Einrichtungen ist laut Marcuse der Mensch »ein Ding« -- und: »als ein Ding zu existieren«, ist »Knechtschaft«. Um so schlimmer, wenn sie nicht bewußt wird.

Dieses System ist komfortabel, weil es alle denkbaren Wünsche in sich aufnimmt, und es ist Knechtschaft« weil es, indem es sie erfüllt, den innersten Wunsch der Menschen, nämlich den nach Freiheit, entmannt.

So ist denn auch nach Marcuse Widerstand gegen die Knechtschaft nur möglich in der Form der »Großen Weigerung« -- dadurch, daß der Rebell das Spiel nicht mehr mitspielt »und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt«.

Obwohl die moderne Gesellschaft sich, wie Marcuse meint, jener Grenze nähert, wo ihre Prinzipien -- Kampf ums Dasein, Krieg, Konkurrenzkampf -- irrsinnig werden, besitzt sie selber kein Mittel, sich davon zu befreien.

Deshalb ist die Befreiung Sache einerseits des »fortgeschrittensten Bewußtseins«, der intellektuellen also, und andererseits der »ausgebeutetsten Kraft«, der Farbigen und der Andersrassigen -- und es besteht, meint Marcuse, die »Chance«, daß diese Extreme »in dieser Periode wieder zusammentreffen«.

Doch rebellieren in diesem Punkt die Berliner Rebellen sogar gegen ihren Meister. Während Marcuse wenig Hoffnung in das revolutionäre Bewußtsein der Arbeiterschaft der hochindustrialisierten Staaten setzt ("Der Arbeiter und sein Chef vergnügen sich am selben Fernsehprogramm"), wollen die Studenten gerade diese Arbeiterschaft remobilisieren.

FU-Professor Taubes über die Studenten-Revolution: »Das Klassenbewußtsein der nur scheinbar befriedeten Arbeiterschaft soll wieder revolutioniert werden« -- ein Plan, der sogar nach Marcuses Vorstellungen überdreht ist.

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