AUTOREN Hirn im Glas
Fahles Licht fällt durch herabgelassene Jalousien auf die starr und mit verrenkten Gliedmaßen auf einem Krankenhausbett liegende Gestalt. Künstliche Beatmung und eine Ernährungssonde halten den einst vitalen Pariser Journalisten Jean-Dominique Bauby an einem Leben, von dem so gut wie nichts mehr wahrnehmbar ist.
Und dennoch: In dem stillgelegten Körper, der allein noch das linke Augenlid bewegen konnte, existierte der Franzose wie ein Astronaut in einem führungslos durchs All schlingernden, nur noch durch Pieptöne mit der Erde korrespondierenden Raumschiff. Kaputt die Instrumente, intakt der Geist und die Persönlichkeit - Bauby, 44, konnte hören, sehen, denken, lesen; nur der Kontakt zur Außenwelt war abgerissen. »Locked-in« (eingeschlossen) nennen die Mediziner diesen Zustand.
Vorletzten Sonntag starb der in seinem Leib eingekerkerte Häftling an einer Infektion. Doch der unter Kollegen so beliebte »Jean-Do« hatte vorher genug Zeit, seinem teuflischen Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Nur drei Tage vor seiner »Mutation« (Bauby) aus dem provisorischen ins endgültige Jenseits konnte der ehemalige Chefredakteur der Pariser Frauenzeitschrift elle ein Buch vorlegen, wie es noch kein Mensch vor ihm zustande gebracht hat: Der Eingeschlossene diktierte »Le scaphandre et le papillon« (Der Taucheranzug und der Schmetterling) mit 200 000 Zeichen seines intakten Augenlids.
Millionen Franzosen vernahmen in einer TV-Dokumentation ("Unter Hausarrest") das Vermächtnis des Zwangseinsiedlers an allzu umtriebige Zeitgenossen: »Macht weiter, aber werdet nicht Gefangene eurer eigenen Rastlosigkeit. Auch Bewegungslosigkeit ist eine Quelle der Freude«. Noch bevor Bauby beerdigt wurde, stand sein literarisch anspruchsvoller und oft humorvoller Report aus dem Zwischenlager nach dem Leben und vor dem Tod bereits auf der Bestsellerliste.
Den Absturz des geistreichen Pariser Dandys vom Bücherfreak und Motorradfan aufs Niveau von »Gemüse« löste ein Schlaganfall am 8. Dezember 1995 aus. Als die Ärzte den Chefredakteur nach 20 Tagen Koma ins Leben zurückgeholt hatten, war die Verbindung zwischen Hirn und Körper abgebrochen: »Ich bin zur Statue erstarrt, mumifiziert, eingeglast«, beschrieb der Gestrandete seinen Zustand. »Wenn eine Tür mich von der Freiheit trennt, so habe ich nicht die Kraft, sie zu öffnen.«
Der Vater zweier Kinder war dennoch glücklicher dran als andere der auf 250 bis 500 geschätzten Locked-in-Opfer in Frankreich, die von ihren Ärzten als hoffnungslose Wachkoma-Fälle aufgegeben worden sind. Bauby wurde dank richtiger Diagnose in ein Spezialkrankenhaus für Gelähmte in Berck an der Kanalküste eingeliefert.
Weil dieser »schlaffe und verrenkte Körper« ihm nur noch »gehört, um mich leiden zu lassen«, konzentrierte sich das »Hirn im Glasbehälter« aufs Träumen, Denken und Formulieren. Daß er die Außenwelt über seine Innenwelt informieren konnte, war das Verdienst der jungen Lektorin Claude Mendibil. Die Frau verfügte über ein besonderes Kommunikationssystem: Sie benutzte das Alphabet in der Rangfolge der im Französischen am häufigsten gebrauchten Buchstaben: E S A R I N ...
Dann begann eine Herkulesarbeit zu zweit. Im Morgengrauen formulierte Bauby im Geist seine Sätze und lernte sie auswendig. Anschließend las ihm seine Partnerin das Spezial-Alphabet vor. Per Lidschlag pickte der Autor die richtigen Buchstaben heraus - einmal Zwinkern hieß »ja«, zweimal »nein«.
So entstanden in monatelanger Arbeit 137 Seiten über den Mann, der durch die dicke Scheibe des Taucherhelms den Schmetterlingen nachträumte. Als Mendibil nach hartem Diktat in einem Pariser Bistro einen Kaffee bestellte und der Barkeeper der Frau zuzwinkerte, »kriegte die einen Lachkrampf«, amüsierte sich Bauby in einem Lidschlag-Interview mit dem Schriftsteller Erik Orsenna.
»Wie ein Eremit auf einem Felsen« beobachtete der Gelähmte durch das ihm verbliebene Fenster, das linke Auge, Pfleger und Mitpatienten. Er empfand Mitleid für 20 Koma-Patienten, »diese armen Teufel, die an der Pforte des Todes in eine Nacht ohne Ende getaucht sind«.
Das einmalige Protokoll dieser Selbsterfahrung begeisterte die Kritiker und bestätigte den Medizinern, daß der Journalist in seinem »neuen« Leben, wie der Autor die andere Existenz nennt, er selbst geblieben war. Orsenna bewunderte »das literarische Werk mehr als die Willensleistung«, weil es Literatur darstelle, die »verwertet, was letztlich an Wesentlichem bleibt - das Leben selbst«.
Der Verstorbene, so erfahren die Franzosen, trug sein Schicksal mit erstaunlicher Gelassenheit. Man müsse, so gab er zu Protokoll, seine »Würde bewahren und auch ein wenig seinen Stolz«. Denn »im Rennen wird nur den besten Pferden das schwerste Handicap auferlegt«.
Einer seiner Freunde erlebte in der Klinik noch einmal Bauby original. Als ein dem Gelähmten unsympathischer, arroganter Augenarzt wieder einmal fragte, ob er doppelt sehe, zwinkerte dieser: »Ja, statt eines Arschlochs sehe ich zwei.«