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THEATER Hitze, Heiterkeit, Mord

Die Herbstsaison ist eröffnet: Starts, Fehlstarts, Neustarts an fünf deutschsprachigen Bühnen
Von Urs Jenny, Anke Dürr, Doja Hacker, Henryk M. Broder und Eva Corino
aus DER SPIEGEL 39/2000

»The Show Must Go On«

Wenn die reifen Kastanien aufs Pflaster knallen, erwachen die deutschen Theater aus der Sommerruhe zu lebhafter Aktivität. »Alles neu!« heißt da überall die September-Parole, und dort ganz besonders, wo neue Leute ans Werk gehen. Dort haben neue Werbeagenturen ein neues Logo sowie eine neue Kampagne ausgeheckt, um insbesondere jungen Leuten auf das gute alte Theater den Mund wässerig zu machen. »Der Lappen muss hochgehen!«, pflegt der alte Theaterhase zu sagen. Der junge Theaterhase bevorzugt die weltläufigere Formel »The show must go on!« - und am Hamburger Schauspielhaus hat man schlau diesen Slogan gleich zum Titel eines Spielzeit-Eröffnungsspektakels gemacht. Neue Chefs übernehmen die Schauspielbühnen zum Beispiel in Bochum, Hamburg (gleich zwei Theater), Hannover und Zürich: Da steht die kritische Aufmerksamkeit auf dem höchsten Pegel.

Zwei der Neu-Intendanten waren bisher unter den erfolgreichsten, umworbensten Regisseuren ihrer Generation - Matthias Hartmann, 37, der nun nach Bochum geht, und Christoph Marthaler, 48, der das Züricher Schauspielhaus übernimmt. Die anderen drei gehören zur Spezies der Kulturmanager: Der neue Schauspiel-Intendant in Hannover, Wilfried Schulz, 48, war bisher Dramaturg in Hamburg, der neue Hamburger Thalia-Theater-Chef wiederum, Ulrich Khuon, 49, war Intendant in Hannover, und der neue Hamburger Schauspielhaus-Chef, Tom Stromberg, 40, hat früher das Frankfurter Theater am Turm und dann das Expo-Kulturprogramm in Hannover betrieben.

Mit den Häuptlingen wechselt naturgemäß jeweils eine Hand voll Spitzenkräfte den Arbeitsplatz: von Hamburg nach Hannover, von Hannover nach Hamburg oder von Hamburg nach Zürich. Sie alle - und erst recht die Theaterchefs in den östlichen Ländern von Rostock bis Dresden - beklagen die Daumenschrauben, die ihnen die rigorose Subventionsökonomie anlegt. Doch alle, die es sich dennoch leisten können, umwerben inständig dieselben jungen Autoren und Regisseure: Auf dem Markt der neuen Theatergenies ist die Nachfrage immer größer als das Angebot.

Kritische Aufmerksamkeit ("Top oder Flop?") richtet sich auch auf jene, deren Neubeginn vor einem Jahr hohe Erwartungen weckte. Haben sie sich behauptet? Wie starten sie in die zweite Runde? Aus Basel wird eine Bauchlandung gemeldet, auch vom Frankfurter Theater am Turm ein Debakel, von der Berliner Schaubühne hingegen Gelungenes, vom Berliner Ensemble fast ein Triumph.

Schließlich gibt es jene Intendanten, die nun ihre letzte Spielzeit-Runde drehen - etwa am Münchner Residenztheater und am Berliner Deutschen Theater -, weil dort im nächsten Sommer neue Leute mit der Parole »Alles neu« antreten.

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Zürich

Angst-Hotel

Dass der eigenbrötlerische Theaterträumer und -macher Christoph Marthaler, der in Zürich aufgewachsen ist, sich traute, die Intendanz des Züricher Schauspielhauses zu übernehmen, war besonders für Züricher Marthaler-Freunde eine Überraschung: Er musste doch, obwohl er auf dessen Bühne nie als Regisseur tätig war, sehr wohl wissen, dass in den letzten Jahrzehnten die Stadt und ihr Theater nur selten ein Herz und eine Seele waren.

Immerhin, die Entscheidung fiel schon im Juni 1997. So hatte die Stadt einerseits, der Künstler andererseits Zeit genug, sich vorsichtig aufeinander zuzubewegen. Marthaler tat es, indem er (vornehmlich am Hamburger Schauspielhaus) eine ganze »Familie« um sich scharte, zu der neben den beiden unentbehrlichen Arbeitspartnerinnen Anna Viebrock (Bühnenbild) und Stefanie Carp (Dramaturgie) ein gutes halbes Dutzend Schauspieler, Tänzer und Musiker gehören. Mit vier fertigen Marthaler-Inszenierungen (zwei aus Hamburg, zwei aus Salzburg) fällt diese »Kerntruppe« nun über Zürich her.

Die Stadt wiederum kam Marthaler entgegen, indem sie nicht nur eine Renovierung des geliebten plüschigen Schauspielhauses beschloss (die noch im Gange ist), sondern auch zuließ, dass sich - auf dem Gelände eines riesigen, »Schiffbauhalle« genannten Industriedenkmals in einem Arbeiterviertel - aus einem moderaten Bauprojekt für Theaterwerkstätten, Büros und Probenräume ein veritables neues Kulturzentrum entwickelte, zu dem nun neben zwei Theatersälen, einem Jazzclub und einem Restaurant auch Ateliers für Designfirmen und Künstlerwohnungen gehören.

Sogar der sonst professionell ungerührten »Neuen Zürcher Zeitung« trieb dieses Werk des Wiener Star-Architektenpaars Ortner & Ortner »Freudentränen« in die Augen. Am vergangenen Wochenende wurde der prächtige »Schiffbau« mit einem Marathonfest und der ersten Marthaler-Premiere mit dem Titel »Hotel Angst« eingeweiht.

Aus Angst wollte Marthaler anfangs nicht nach Zürich heimkehren, aber aus Angst hat er es »nach dem jahrelangen Herumvagabundieren« dann doch gewagt: »Weil Theater ohnehin nur aus Angst besteht.« So lag der Stücktitel nah, und es lag für Marthaler auch nah, seinen stets gleichermaßen touristengeilen wie fremdenfeindlichen Landsleuten mit ihren Ängstlichkeiten und Ängsten als metaphorischen Zufluchtsort (schweizerisch: Réduit) ein »Hotel Angst« anzubieten - eines dieser hoffnungslos trüben, erstickend vermufften Alptraumgehäuse, wie sie nur Anna Viebrock zu erschaffen vermag.

Marthaler, der Liebhaber nicht enden wollenden Männerchorgesangs, ist vor allem durch seine Kunst berühmt geworden, den so genannten Bunten Abend (der in der Schweiz auch gern »Heimabend« genannt wird) in seiner ganzen vollfetten Banalität zu einem Kunstwerk eigenen Ranges zu erheben. Und diesmal ist im Zeichen der glücklichen Heimkehr Marthalers postdadaistisch-subversive Collage aus Schützenfestreden, leer laufenden Demokratie-Ritualen, Verbotstexten und militärischem Getue besonders liebevoll in helvetische Volksmusik gebettet. Wie bei einem früheren solchen Ereignis könnte das Motto sein: »Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet!« URS JENNY

München

Mut der Jungen

München ist auch nicht mehr das, was es mal war. Bei jedem Oktoberfest steigen die Bierpreise, mit dem Wetter steht es auch nicht viel besser als in Hamburg - und den Titel als heimliche Theaterhauptstadt hat München offenbar kampflos abgegeben. Berlin, Hamburg, sogar Hannover oder Stuttgart - für Münchner Theaterfans gilt längst: Überall ist es besser, wo wir nicht sind.

Die Kammerspiele sind seit Monaten stillgelegt, nachdem bei der Sanierung auf unglaubliche Art geschlampt wurde. Und weil Improvisieren noch nie die Stärke des Hausherrn Dieter Dorn war, weiß man auch noch nichts über die Pläne für die laufende Saison - auf der Website bitten die Verantwortlichen um »etwas Geduld«.

Beim Bayerischen Staatsschauspiel, das Dorn nächstes Jahr übernimmt, startet der glücklose Intendant Eberhard Witt in seine letzte Spielzeit. Er kann das ganz befreit tun, weil von seiner Mannschaft ohnehin niemand mehr Großes erwartet. Seine Chefdramaturgin Elisabeth Schweeger leitet künftig das Frankfurter Schauspiel.

Du hast keine Chance, aber nutze sie - nach diesem Motto des Münchner Theatergenies Herbert Achternbusch machen sich nun zwei junge Frauen am Bayerischen Staatsschauspiel an die Spielzeiteröffnung. Am Freitag dieser Woche präsentiert Cornelia Crombholz, 34, »Der tollste Tag«, Peter Turrinis moderne Beaumarchais-Variante. Einen Tag später folgt die Schweizer Regisseurin Simone Blattner, 32, mit »Der Fremde«. 60 Jahre nach ihrem Erscheinen ist Albert Camus' legendäre Erzählung vom Einzelgänger Meursault, der aus Zufall zum Mörder wird, erstmals auf der Bühne zu sehen. Ein Projekt, das zumindest mutig zu nennen ist.

Blattner und ihr Dramaturg Jens Groß haben eine schlüssige Theaterfassung aus dem Prosatext destilliert: Viele Passagen, in denen der Held im Original in indirekter Rede das Geschehen referiert, haben sie einfach in direkte Rede übertragen und auf die entsprechenden Personen verteilt. Die Hauptfigur aber, im Buch der Ich-Erzähler, beteiligt sich nur zum Teil an den Dialogen. Oft wendet sich Meursault stattdessen ans Publikum und erzählt, was er in eben dieser Situation tat und sagte. So bleibt der Held, wie bei Camus, ein Außenstehender in seinem eigenen Leben.

Gespielt wird das Ganze auf einer leicht ansteigenden Fläche, über die ein helles Segeltuch gespannt ist - mit erstaunlich wenigen Mitteln erzeugt Blattner da eine Atmosphäre von Hitze und gnadenloser Sonne, wie sie Camus so eindringlich beschreibt.

Der Text, die Bilder - scheinbar ist alles in Ordnung. Woran liegt es also, dass das Konzept der Regisseurin trotzdem nicht aufgeht? Wenn man es wagen darf, so eine Frage bereits nach der zweiten Durchlaufprobe zu stellen, muss die Antwort lauten: Es liegt an den Menschen, die auf der Bühne zu sehen sind; sie interessieren einen kaum. Vielleicht könnte ein geheimnisvollerer Hauptdarsteller da etwas ausrichten - Michael Scherff ist für den Meursault zu gemütlich, zu rund. Die Figuren um ihn herum - den Nachbarn, den Kumpel, den Richter, die Freundin - überzeichnet Blattner stark ins Karikierende. Damit verstärkt sie zwar den Eindruck, dass Meursault ein Fremder ist in einer absurden Welt, aber sie verhindert auch, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Alles an der Inszenierung schreit: Hier wird Theater gespielt!

Noch ist das für die Münchner kein Warnruf. Die derzeitige Theaterprovinzstadt wird schon wieder das werden, was sie mal war. ANKE DÜRR

Hamburg

Vernebelt

Der durchschnittliche Büromann hat Tag für Tag zwei Probleme: Weder gelingt es ihm, den Kaffeeautomaten zu beherrschen noch die Sekretärin zu verführen. Dieses Dilemma begleitet den Zuschauer durch Moritz Rinkes von Stephan Kimmig uraufgeführtes Auftragswerk »Republik Vineta«. Die Jüngeren auf der Thalia-Bühne versuchen sich zu helfen, indem sie heftig gegen den Automaten treten und die Sekretärin beinahe vergewaltigen, die Älteren bereiten ihren Cappuccino lieber wieder per Hand zu und gestehen der Sekretärin mit gebührendem Abstand ihre schwärmerische Liebe. Was die milden Alten tun, wird die Zukunft der zornigen Jungen sein, so schließt sich der Kreislauf des Arbeitslebens.

Und würde es wohl ewig, ginge es nicht mit der Arbeit langsam zu Ende. Ein Regisseur wie Christoph Marthaler verwandelte dergleichen Rituale obsoleter Arbeitskräfte in zähe Musicals, überschüttete das Publikum mit Wiederholungen des ewigen Leerlaufs, bis es loslachen musste vor Schmerz. Das Duo Rinke/Kimmig geht wieder einen Schritt zurück in der Theatergeschichte, setzt wieder auf Handlung, ausgemalt bis ins verschachtelte Detail.

Sechs Personen suchen eine Aufgabe. Sie sind Architekt, Marketingspezialist, Bürgermeister oder Arbeitsamtchef und haben eine geheime Mission zu erfüllen: Auf einer noch unbebauten Insel im Bottnischen Meerbusen sollen sie ein neues Utopia errichten. Ein jeder möge beitragen, was seiner Meinung nach in eine bessere Welt gehört, das reicht vom Expogeschulten Themenpark »untergegangene Träume« über einen langen, Insel und Festland verbindenden Tunnel bis zur Wiedervereinigung der Beatles. Weil dieses alles schlecht zusammenpasst, sagen die flotten Jungen den müden Alten den Krieg an. Am Ende sind fast alle tot, das ist nicht ohne Komik.

Komik entsteht in dieser Uraufführung immer dann, wenn der Regisseur Schauspieler wie Christoph Bantzer und Hans Christian Rudolph einfach losspielen lässt und sich selbst Einfälle erlaubt. Die haben bloß einen Nachteil: Sie hindern das Publikum am Begreifen des Stücks. So lässt Kimmig das Tagebuch des Projektleiters, das dessen diktatorischen Charakter enthüllt, mit ständigen Versprechern vorlesen. Das bringt zum Lachen, ist aber beinahe schon Sabotage am Text. Vielleicht hat Kimmig auch irgendwann schlicht den Überblick verloren.

Rinkes »Vineta« soll handeln vom Ende der Utopien und vom Ende der Arbeit, vom Ende des männlichen Selbstwertgefühls und vom Ende der Politik. Und irgendwie auch noch von Globalisierung und Gegenmoderne, vom Gerangel um die Berliner Republik, vom Scheitern der Expo und den Fusionsplänen der Deutschen und der Dresdner Bank. Das konnte vermutlich nicht gut gehen. Es sei denn, Vernebelung gehöre zum Programm der neuen Thalia-Mannschaft.

Theater, so die Parole des Intendanten Ulrich Khuon, solle sich auf seine »subversive Energie« besinnen, »geheimnisvoll und rätselhaft« sein, Eingängigkeit und Verstehbarkeit habe sich ja schon das Fernsehen auf die Fahnen geschrieben. So gesehen hat er mit »Vineta« ein Etappenziel erreicht. Und das Publikum weiß einmal mehr: Die wahren Probleme des Mannes im Büro sind sein Kaffeeautomat und seine Sekretärin. DOJA HACKER

Berlin

Wer mit wem?

Solange Claus Peymann am Wiener Burgtheater regierte, liebten ihn die deutschen Feuilletons, vor allem deshalb, weil er sich so gern mit den Österreichern anlegte. Seit er das Berliner Ensemble führt, hat die Liebe nachgelassen. Die Neuauflagen seiner alten Inszenierungen, mit denen er sein erstes Jahr als Intendant der ehemaligen Brecht-Bühne zum Teil füllte, kamen bei der Kritik und beim Publikum nur mäßig an.

Nun, zum Auftakt seiner zweiten Spielzeit, greift er noch weiter zurück, ins 17. Jahrhundert. Die erste Premiere der Saison ist Molières »Tartuffe«.

Das Stück, 1664 uraufgeführt, wurde seitdem von Stadttheatern, Wanderbühnen und Schülertruppen zu Tode gespielt: eine Posse mit wilden Perücken, viel Puderquaste und bunten Pappkulissen. Wie peinlich!

Doch diesmal liegt Peymann richtig. Denn er hat einen Regisseur aus Budapest nach Berlin geholt, Tamás Ascher, den er schon in Wien beschäftigt hat, und der hat einen Bühnenbildner, eine Kostümbildnerin, einen Musikmeister, eine Dramaturgin und einen Lichtdesigner mitgebracht. Das Berliner Ensemble ist derzeit fest in ungarischer Hand. Besseres konnte dem Haus, an dem sowohl Peter Zadek als auch Heiner Müller großmäulig gescheitert sind, nicht passieren.

Tamás Ascher, 51, in Deutschland ein No-Name, gehört in Ungarn zu den bekannteren Theaterleuten. Er leitet ein Theater in der Provinz und inszeniert an einem großen Haus in der Hauptstadt. Für Berlin hat er den Tartuffe kräftig durchgelüftet und entstaubt, und er benutzt eine neue Übersetzung von Wolfgang Wiens, die leicht und heiter klingt.

Natürlich treibt der frömmelnde und gerissene Betrüger sein Unwesen in den fünfziger Jahren, in einem Haus, das so aussieht, als würde Gabriele Henkel darin wohnen. Und natürlich tragen die Schauspieler ganz normale Anzüge und Kleider, was freilich bei Klassiker-Inszenierungen nicht ganz neu ist. Doch Ascher geht weiter. Er macht aus der bejahrten Komödie ein lebendiges Boulevardstück, in dem es vor allem um die Frage »Wer mit wem?« geht. So eine Vorlage, sagt Ascher, während er sich einen Blutorangen-Drink von Müller-Milch einschenkt, kann man »nicht traditionell spielen lassen«, die »Absurdität der bürgerlichen Existenz« muss angemessen »übersetzt werden«.

Dass die »Übersetzung« funktioniert, liegt erstens an der Dolmetscherin Anna Veress, die zwischen dem Regisseur und den Akteuren vermittelt, und zweitens an dem Hauptdarsteller Rufus Beck aus München, der sonst am liebsten coole Erfolgstypen spielt. Molière muss, als er den Tartuffe schrieb, an Beck gedacht haben. Er singt »Kann denn Liebe Sünde sein?«, während er Elmire, die Frau seines Gastgebers, gespielt von Ursula Höpfner, zu verführen versucht, und führt gleich darauf eine Erektion vor, als wollte er Dolly Buster von seinem Talent überzeugen. So frisch und fröhlich hat man einen über 300 Jahre alten Klassiker lange nicht erlebt.

Peymann ist ein Risiko eingegangen. Er hat einen Regisseur, der nicht Deutsch spricht, auf Schauspieler losgelassen, die kein Wort Ungarisch sprechen. Doch die Intervention der Budapester Theater-Gang war ein Glücksfall, für das Stück und das Berliner Ensemble. Und inzwischen, sagt Rufus Beck, »kommt es mir vor, als ob ich Ungarisch verstehe«; der Deutsche ist von dem Ungarn so begeistert, dass er demnächst ein Stück mit Ascher in der Hauptrolle inszenieren möchte, auf Ungarisch, wenn es sein muss. HENRYK M. BRODER

Frankfurt am Main

Pseudo-Genies

Durch das Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main führt ein 30 Meter langer Laufsteg. Die Schauspieler stolzieren mit karierten Jacketts und russischen Bärten über die Bretter, mit aufgerissenen Augen und trauerumflorten Stimmen. Aber wie sie sich auch drehen und wenden: Die meisten sind Anziehpuppen, keine Charakterdarsteller.

Man trägt wieder Tschechow in diesem Herbst. Der Birkenwald, der an die Wand gepinselt wurde, soll für Stimmung sorgen. Manche Blätter sind schon gelb gefärbt, unablässig tröpfelt Klaviermusik auf die Köpfe der Zuschauer.

In der letzten Saison trug man im Theater am Turm (TAT) noch Kostüme, die vom Astronautenlook inspiriert waren, passend zu einer zukunftsweisenden Inszenierung von Tom Kühnel und Robert Schuster.

Wie die Schaubühne in Berlin so ist auch das TAT damals mit Tamtam aufgebrochen, um »neue Formen« zu finden. Doch wo fleißig experimentiert wird, da geht auch viel daneben: Die Reaktionen der Presse auf die Projekte des »Welttheaters« waren in der Regel hämisch, weil die jungen Künstler auf ihr junges Blut so stolz waren, dass sie weder von der dramatischen Tradition noch von älteren Kollegen etwas wissen wollten.

Gereift oder eingeschüchtert vom steigenden Erfolgsdruck, wandte sich das Ensemble an den Regisseur Frank-Patrick Steckel mit dem Wunsch, »einmal richtig Theater zu spielen«. Steckel, der in den siebziger Jahren schon an der alten Schaubühne Regie führte, hat jetzt »Die Möwe« von Anton Tschechow inszeniert. Es ist keine große Inszenierung, aber eine wichtige: Weil die Schauspieler des TAT lernen, wie hart sie noch arbeiten müssen, wenn sie vom modischen Posieren zur Kunst der Verkörperung vordringen wollen. Weil der Laufsteg die wachsende Entfernung zwischen den Männern und den Frauen veranschaulicht, diesen Reigen der Verfehlung: Medwedenko liebt Mascha, die Kostja nachstellt, der Nina begehrt, die Trigorin bewundert, der Arkadina vorzieht, die Dorn bezaubert, der von Polina verfolgt wird ... Außerdem spiegelt das Stück den Generationenkonflikt, der sich im Moment an deutschen Bühnen abzeichnet.

Fast überall sind in letzter Zeit Figuren angetreten, die dem 25-jährigen Kostja sehr ähnlich sind. Tschechow beschreibt ihn als einen Jüngling, der die Konventionen des Plüschtheaters entsetzlich findet und Reißaus nehmen möchte, »wenn in einem Zimmer mit drei Wänden diese Priester der heiligen Kunst darstellen, wie die Leute essen, trinken, lieben und ihre Jacketts tragen; wenn sie sich bemühen, aus platten Sätzen eine Moral herauszupressen - so eine nützliche für den Hausgebrauch«.

»Die Möwe« handelt von Künstlern und vor allem von Dilettanten, die jahrelang einem Talent hinterherjagen, das sie gar nicht haben. Der arme Kostja zerreißt am Ende seine Manuskripte und erschießt sich mit der Gewissheit, dass seine Predigt der »neuen Formen« nur ablenken sollte von der eigenen poetischen Impotenz. Wenn Tschechow das eine »Komödie« nennt, ist er dem Trauerspiel des Gegenwartstheaters erschreckend nahe. EVA CORINO

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