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BIOGRAPHIEN Hochzeit mit Gott

In ihrem Buch über Nijinsky, jetzt erstmals auf deutsch erschienen, berichtet die Witwe des Tänzers, wie sie ihn von seiner Homosexualität »für mich reformieren« konnte.
aus DER SPIEGEL 1/1975

Es war nach elf, das Deck des Ozeandampfers »Avon«, auf der Fahrt von Southampton nach Buenos Aires, war leer »in dieser lauen Tropennacht« des Jahres 1913, als Romola de Pulszky sieh endlich am Ziel ihrer Wünsche sah: »Aus dem Nichts tauchte unvermittelt Nijinsky auf und sagte: »Mademoiselle, voulez-vous, vous et moi?« Er deutete pantomimisch einen Ring am vierten Finger der linken Hand an. Ich nickte und sagte, mit beiden Händen winkend: »Oui, oui, oui.'«

Die ungarische Tänzerin Romola sprach kein Wort Russisch, der 23jährige russische Tänzer Vaslav Nijinsky kein Wort Ungarisch. Nach ihrer Verlobung auf französisch saßen sie schweigend in zwei Deckstühlen unter dem »von Millionen Sternen besäten Nachthimmel«, und »wie dieses weiße Schiff ... in der Weite des unendlichen Ozeans seiner Bestimmung entgegenfuhr, so fuhren wir unserem Schicksal zu«.

Romola Nijinsky hat, so romantisch, ihre Verlobung mit dem damals schon weltberühmten Tänzer 20 Jahre später beschrieben -- als das »Schicksal« ihn bereits geschlagen hatte: Nijinsky erkrankte um 1919 an Schizophrenie. 1934 kam ihre Nijinsky-Biographie auf englisch in New York heraus; sie wurde in 16 Sprachen übersetzt -- auf deutsch ist sie jedoch erst jetzt, vier Jahrzehnte nach ihrer Erstveröffentlichung, erschienen: »Nijinsky. Der Gott des Tanzes«.**

Daß die Biographie 1934 in Deutschland nicht erscheinen konnte, lag an der Tabuisierung eines ihrer heiklen und zugleich wichtigsten Aspekte durch das NS-Regime: Romola Nijinsky sprach in ihrem Buch erstmals offen über die homosexuelle Beziehung Vaslav Nijinskys zu Sergej Diaghilew, seinem Entdecker und Impresario.

Der reiche russische Mäzen hatte die außerordentlichen Talente des Absolventen der Kaiserlichen Tanzschule in St. Petersburg schon früh erkannt. Mit 18 Jahren wurde Nijinsky Diaghilews Schüler und Favorit, von seinem Mentor über die Maßen verwöhnt, aber auch -- zunächst -- beherrscht: »Vaslav ließ es gern zu«, so Romola Nijinsky, »in Diaghilews Händen wie Wachs geformt zu werden ... Und Diaghilew erstickte jeden Gedanken an Widerstand, der sich in dem jungen Mann regen mochte, durch die bekannten Geschichten über die Griechen, Michelangelo und Leonardo, deren schöpferisches Dasein solcher intimer Verhältnisse bedurfte.«

Romola schildert, was -- auch schon 1934, als ihr Buch herauskam -- längst als epochal in die Kulturgeschichte eingegangen ist: den Triumphzug der von Diaghilew ingeniös organisierten »Ballets Russes« mit den Stars Nijinsky, Anna Pawlowa, Fokin und Tamara Karsawina, mit den Bühnenbildnern Bakst und Benois durch Westeuropa, deren stilbildende und modemachende Begegnung mit der westlichen Avantgarde von Ravel bis Picasso, mit der kunstsinnigen Aristokratie und Geld-Aristokratie von der Comtesse de Greffuhle bis Nancy Cunard. Vor allem aber

* Oben: Mit Tamara Karsawina.

* Romola Nijinsky: »Nijinsky. Der Gott des Tanzes«. Deutsch von Haus Bütow. Insel Verlag. Frankfurt; 404 Seiten; 38 Mark

schildert sie, oft allzu schwärmerisch, den Aufstieg Nijinskys zum angebeteten »Gott« der Tanzkunst seiner Zeit, dessen »unglaubliche Fähigkeit, fast zu fliegen, das Publikum in Bann schlug«. Er stand Rodin nackt Modell; Cocteau beobachtete ihn aus der Kulisse; die Tänzerin Isadora Duncan forderte ihn auf, mit ihr »einen Tänzer zu zeugen«.

Mit den Ballettwerken »Der Nachmittag eines Fauns« nach Musik von Debussy und »Le Sacre du Printemps« von Strawinski, deren Pariser Premieren 1912 und 1913 denkwürdige Theaterskandale auslösten, etablierte sich Nijinsky als eigenständiger Choreograph. Durch die Heirat mit Romola de Pulszky, auf die diese »mit fanatischem Eifer« hingearbeitet hatte, emanzipierte er sich von Diaghilew.

Für jene Atlantik-Überfahrt zu einer Südamerika-Tournee hatte der Impresario, der Schiffsreisen scheute, seinen sonst eifersüchtig bewachten Liebling erstmals allein gelassen. Die zielstrebige Romola nutzte ihre Chance, Nijinsky »für mich zu reformieren": »Ein- undzwanzig Tage Meer und Himmel -- kein Diaghilew. Er kann nicht entrinnen.«

Die Verlobten ließen sich in Buenos Aires trauen. Nach der Rückkehr, in Budapest, erreichte den jungen Ehemann Nijinsky ein Telegramm: »Ihre Dienste im Russischen Ballett werden nicht mehr benötigt. Kommen Sie nicht zu uns. Sergej Diaghilew.«

»Dies«, schreibt Romola Nijinsky, »war Diaghilews Rache.« Und von da an ging's bergab. Dem aus seiner künstlerischen Heimat, dem Russischen

* Nach der Trauung 1913.

Ballett, verstoßenen, weltfremden Tänzer blieb auch die Rückkehr ins Vaterland versperrt: Der Erste Weltkrieg brach aus, der russische Staatsbürger Nijinsky und seine Frau wurden in Ungarn interniert, von Romolas Verwandten schikaniert.

1916 konnten sie mit ihrer Tochter Kyra in die USA ausreisen. In Amerika tanzte Nijinsky zwar noch mit Erfolg; seine letzten Auftritte jedoch wurden durch allerlei Zwischenfälle gestört: Mal trat er auf der Bühne in einen rostigen Nagel, mal stürzte eine Kulisse um -- die Biographin Romola mag nicht ausschließen, daß bei all dem und bei anderen Schwierigkeiten die Rache Diaghilews weiter am Werk war.

1917 zog Nijinsky nach St. Moritz. Zwei Jahre später brach seine Schizophrenie aus. Er lief, ein großes Goldkreuz umgehängt, durch die Straßen und ermahnte die Passanten zum Kirchgang. »Vaslav«, rief Romola, »willst du nicht aufhören, Tolstoi nachzuahmen, diesen alten Irren?«

In einem Hotel-Ballsaal tanzte er vor etwa 200 eingeladenen Gästen -- noch einmal »großartig, aber auf erschreckende Art« (Romola) -- eine wirre Phantasie über den Krieg und nannte es »meine Hochzeit mit Gott«. Er zeichnete Schmetterlinge mit Gesichtern, die ihm selber ähnelten, und große Spinnen mit Diaghilews Gesicht. Anfälle von Gewalttätigkeit folgten. Der Züricher Psychiater Bleuler erklärte ihn für »unheilbar geisteskrank«.

Vaslav Nijinsky starb 1950 in England. Seine Witwe, die nach der Biographie von 1934 noch einen Fortsetzungsband »The Last Years of Nijinsky« veröffentlichte, lebt und arbeitet nach wie vor für seinen Nachruhm: 1973 amtierte sie als Preisrichterin bei einem internationalen Tanz-Wettbewerb in Moskau; zusammen mit dem englischen Autor Robin Maugbam schrieb sie ein Theaterstück über Nijinsky, und erst kürzlich hat sie ihre beiden Nijinsky-Biographien dem James-Bond-Produzenten Harry Saltzman zur Verfilmung verkauft.

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