SPRÜHDOSEN Hoechster Heuler
Am 22. Dezember 1963, 150 Seemeilen vor der Küste von Madeira, geriet das 20 000-Tonnen-Passagierschiff »Lakonia« in Brand. 128 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Vermutliche Ursache der Katastrophe: Im Frisiersalon des Dampfers waren Haarspray-Dämpfe explodiert.
Tödliche Verletzungen erlitt Ende Juli dieses Jahres ein 19jähriger Jugendlicher aus Dorfprozelten in Unterfranken: ar hatte mit einer Haarspray-Dose gezündelt und offenbar die Sprengwirkung ihres Inhalts unterschätzt.
Minder folgenschwer war das Mißgeschick, das vielen westdeutschen Urlaubs-Automobilisten in südlichen Ländern widerfuhr: Explosionen im Handschuhkasten - Sprühdosen mit Reifen -Flickmittel hatten sich unter der Einwirkung der Sonnenhitze zu sehr erwärmt.
Dennoch: Die Bundesbürger entschieden sich - wie die Amerikaner und die Bewohner anderer westlicher Länder-, mit der Sprüh-Bombe zu leben. In jedem westdeutschen Haushalt wurden im letzten Jahr durchschnittlich acht Exemplare der neuartigen Druckzerstäuberdosen geleert.
Mit einem Konjunktur-Aufwind, der dem Fünf-atü-Sprühdruck der Schönheits-, Pharmazie und Haushalts-Sprays entspricht; wuchs in den vergangenen Jahren ein neuer Zweig der chemischen Industrie empor: Großfirmen wie die Farbwerke Hoechst in Frankfurt am Main oder die Kali-Chemie in Hannover fertigen bereits in Tausend-Tonnen -Quantitäten die Treibgase, die den Haar - oder Autolack aus der Dose schleudern. Die neue Sprüh-Industrie etablierte sich unter dem Sammelbegriff »Aerosole"*; er bezeichnet die nebelartige Verteilung fester oder flüssiger Substanzen in der Luft. So formulierte unlängst das amerikanische Nachrichtenmagazin »Time«, das »Zeitalter der Aerosole« sei angebrochen.
Was Dampfbäder und Räucherkerzen, Parfümzerstäuber und Flit-Spritzen einst nur unzulänglich zuwege brachten, ermöglicht die modische Sprühflasche auf mühelose Weise: Duft- oder Wirkstoffe werden mit bloßem Fingerdruck auf die Sprüh-Düse nachhaltig im Raum verteilt.
Die neuartige Verpackung - die das Behältnis zugleich zum Applikations -Werkzeug macht - kommt dem Hang des Wohlstandsbürgers zur Bequemlichkeit entgegen, etwa beim Auftragen von Sonnenschutzöl oder Schuhputzmitteln. Und sie brachte etliche bislang kaum marktgängige Produkte in Verbrauchergunst, so beispielsweise Enteisungsmittel für Autoscheiben, artifiziellen Christbaum-Schnee oder Trocken-Shampoo für Hunde.
Mit einem Druck auf den Ventilknopf sprühen sich täglich Millionen Frauen Lack ins Haar, sie steifen Petticoats, polieren Möbel und putzen Fensterscheiben - alles aus der Dose. Die Do-it yourself-Bewegung empfing neue Impulse durch das Angebot von Lacken. Farben, Rostlösern. Schmiermitteln und sogar Fugenzement in Aerosol-Form
Auch Ärzte und Patienten machen in zunehmendem Maße von Spray-Medikamenten Gebrauch - gegen Asthma, Heuschnupfen, Ekzeme, Allergien, Verbrennungen und Vitaminmangel, zur Lokalanästhesie und als flüssiger Wundverband; die Spray-Mittel können auf die Haut, oral, nasal, rektal oder vaginal verabreicht werden.
Erfunden wurde die Sprühdose schon vor nahezu 40 Jahren. Doch damals blieb die Neuheit unbeachtet. Erfinder war der norwegische Diplom-Ingenieur Erik Rotheim. Am 8. Oktober 1926 ließ er sich in Oslo ein »Verfahren zum Zerstäuben, Ausspritzen oder Verteilen von Flüssigkeiten oder halbflüssigen Massen« patentieren, mit dessen Hilfe man Stoffe wie Ski-Wachs oder Insektenvertilgungsmittel gleichmäßig versprühen könne.
Prinzip des von Rotheim ersonnenen Spray-Verfahrens: Ein sogenanntes Treibgas wird unter hohem Druck oder durch Unterkühlung verflüssigt Dieses verflüssigte Gas wird mit dem eigentlichen Wirkstoff (etwa dem Haarlack oder dem Insektizid) gemischt und in die Zerstäuberdosen abgefüllt. Ständig bestrebt, in seinen gasförmigen Zustand zurückzukehren, hält das Treibgas den Inhalt der Dose fortwährend unter Druck. Öffnet dann der Verbraucher das Ventil am Kopf der Sprühdose, entweicht das Gemisch durch ein Steigrohr ins Freie. Das Treibmittel, das sich nun ungehindert wieder zu Gas ausdehnen kann, schleudert dabei den Wirkstoff zu einem feinverteilten Sprühnebel oder zu Schaum auseinander.
Erst nach Rotheims Tod wurde seine Erfindung technisch genutzt. Im Zweiten Weltkrieg entwickelten amerikanische Chemiker, vor allem für die US -Soldaten, die »bug bombs« - Sprühflaschen zur Bekämpfung von Moskitos. Als Treibgas verwendeten sie fluorierte Chlorkohlenwasserstoffe, die während der dreißiger Jahre in Deutschland und in den USA - zunächst als Kältemittel - entwickelt worden waren.
Nach dem US-Sieg über Japaner und Insekten gingen amerikanische Industrielle daran, das Prinzip der Aerosol -Dose auch privatwirtschaftlich zu nutzen. Bereits im Jahre 1947 konnten sie eine Handvoll Präparate anbieten - wie Mottentöter, Haarsprays oder desodorierende Körperpflegemittel. Alsbald wurden auch Hautcremes, Rasierschaum, Fleckentferner und Imprägniermittel in Aerosol-Sprühdosen abgefüllt. Bereits 1958 wurden auf dem US-Markt etwa 300 derartige Präparate feilgeboten.
Was skeptischen Unternehmern zunächst als »gimmick« (fauler Zauber) ohne Zukunftsaussichten erschienen war, erwies sich nicht nur in Amerika als ein Verkaufsschlager. Anfang der fünfziger Jahre war auch der europäische Markt reif zum millionenfachen Druck auf die Gasdose.
Die Absatzzahlen der bundesdeutschen Aerosol-Branche veranschaulichen einen beispiellosen Boom: Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich der Absatz von Sprühdosen in Westdeutschland nahezu verhundertfacht (1953: 1,5 Millionen Packungen; 1963: 120 Millionen Packungen). Und für das kommende Jahr rechnen die Marktforscher - ähnlich wie in den USA, wo 1963 rund 1,1 Milliarden Spray-Behältnisse verkauft wurden - mit abermals verdoppeltem Bedarf.
Haarspray, Kosmetika, Farben und Lacke sowie Insektizide sind nach wie vor die meistverkauften Spray-Artikel. Doch auch kuriose Präparate werden zunehmend verbreitet, so beispielsweise Trocken-Spray für Wellensittiche ("Federglanz - vernichtet Vogelmilben und verschönt das Gefieder") und Blattglanz-Mittel für Zimmerpflanzen; in den Vereinigten Staaten werden benzinhaltige Spray-Mittel als Kaminfeuer-Entzünder ("Charcoal Lighter") und in der Schweiz als »Selektiv-Filter« für die TV-Mattscheibe angeboten.
Sicherheitsbestimmungen - vom »Deutschen Druckgas-Ausschuß« erlassen - sollen die Ungefährlichkeit der Spray-Dosen im Haushalt gewährleisten. So sind die Beschaffenheit der Behälter und die höchstzulässigen Druckverhältnisse genau vorgeschrieben. Die meisten deutschen Spray-Fabrikanten verwenden zudem freiwillig Treibmittel, die nicht brennbar sind.
Ob Sprüh-Präparate, vor allem Haarsprays, gesundheitliche Schäden hervorrufen können, ließ die amerikanische Bundesbehörde zur Arznei- und Lebensmittelüberwachung (FDA) in einer umfangreichen Untersuchungsreihe klären. Hunderte von Kaninchen, Meerschweinchen und Ratten wurden mit Haarfestigern besprüht und anschließend seziert. Resultat: Die Sprühmittel wurden für unschädlich befunden. Auch eine Reihenuntersuchung an 275 westdeutschen Damenfriseuren konnte keinerlei Lungenschäden durch Haarsprays aufdecken.
Auch ohne die Kenntnis dieser günstigen Befunde ließen sich die Bundesbürger von Gerüchten über mögliche Spray-Schäden nicht abschrecken. »Die Leute«, so sagte Hoechst-Prokurist Erwin Hof, Vorstandsmitglied der »Interessen-Gemeinschaft Aerosole«, »erwarten aus der Aerosol-Packung keine Gefahren, sondern wahre Wunder.«
Die bislang letzte Aerosol-Wunderwaffe wollen die Farbwerke Hoechst deutschen Verbrauchern demnächst bescheren: Nach dem Vorbild amerikanischer und schwedischer Treibgas-Warnsirenen für Segelboote wird das Frankfurter Chemiewerk eine Aerosol-Heulflasche auf den Markt bringen - als Sicherung gegen Autodiebe.
Der Hoechster Heuler wird freilich, so schätzt Prokurist Hof, außer den Automobilbesitzern noch eine andere Bevölkerungsgruppe beglücken: Die Schlachtenbummler in den deutschen Kicker-Arenen werden für das neue Lärminstrument dankbar sein.
* Von griechisch aer = Luft und lateinisch solutio = Losung.
Haarspray, Rostlöser, Rasierschaum: Ein beispielloser Boom...
... mit der bequemen Bombe: Christbaumschnee, Desodorans, Autowachs
Sprühdosen-Erfinder Rotheim
In der Arena Lärm