Rundfunk Hoffen auf ein Wunder
Geduckt sitzt Angela Gobeline, 26, hinter dem Moderatorentisch. Gerade hat sie mit verschnupften und hustenden Mitgliedern einer Berliner Funk-Band über Grippemittel diskutiert, danach zur großen Anti-Rassismus-Demo aufgerufen. Jetzt bleiben ihr noch Sekunden, bis die Sendung zu Ende geht.
Auf dem Plattenteller liegt eine Single von Tina Turner. Die Berlinerin nickt mit dem Kopf, drückt ihr Kreuz durch und sagt: »Zum Schluß noch ,Nutbush City Limits' von Tina Turner. Wollen wir hoffen, daß DT 64 einmal so alt wird, wie es Frau Turner heute schon ist.«
Daß es so weit kommt, ist unwahrscheinlich. Wie alle Redakteure und Mitarbeiter des Musiksenders DT 64 hat Gobeline ihre Kündigung erhalten. Am 31. Dezember soll die beliebteste Jugendwelle der Ex-DDR nach dem Willen des von Kanzler Kohl ausgesuchten Rundfunkbeauftragten Rudolf Mühlfenzl den Sendebetrieb einstellen. Die meisten Angestellten arbeiten trotzdem weiter. Schließlich, so die Losung im Ziegelbau am Rand von Ost-Berlin, »hoffen wir hier auf ein Wunder«.
Die lakonische Zuversicht der Journalisten gründet sich auf das Hörerecho. Seit letztem Jahr werden in den neuen Bundesländern beinahe wöchentlich DT-64-Fanklubs gegründet.
In Dresden, Halle, Leipzig und Erfurt demonstrierten Tausende Jugendlicher für den Erhalt des Senders. 120 000 Unterschriften wurden gesammelt, und jeden Tag erhalten die Rundfunkleute Post mit Durchhalteparolen. Ein jugendlicher Hörer ist festen Willens, seinen Radioapparat, falls der Sender dichtmacht, an Neujahr aus dem Fenster zu werfen; eine Lehrerin aus Franken glaubt, ohne DT 64 »völlig aufgeschmissen« zu sein.
Trotz solch emphatischer Sympathiebekundungen geschieht auf politischer Ebene wenig. Es bleibt bei lauen - und folgenlosen - Solidaritätsadressen.
Stur klammert sich der Rundfunkbeauftragte Mühlfenzl an Artikel 36 des Einigungsvertrages, wonach alle Teile des Staatsrundfunks der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1991 aufzulösen oder in Anstalten des öffentlichen Rechts einzelner oder mehrerer Bundesländer zu überführen sind. Der von ihm mitgetragene Plan, DT 64 zu privatisieren und weiterhin in den neuen Ländern senden zu lassen, scheiterte bereits im Mai am Widerstand der Landesregierungen.
An eine öffentlich-rechtliche Lösung ist nur in kleinem Rahmen zu denken. Eventuell, so heißt es, könnten Teile des Programms von DT 64 im Raum Berlin-Brandenburg ausgestrahlt werden, falls sich die Intendanten des SFB und des Rundfunks Brandenburg, Günther von Lojewski und Hansjürgen Rosenbauer, darauf einigen. Der Intendant des in Leipzig ansässigen Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, hat schon abgewunken. Er hält das Jugendprogramm für »entbehrlich«, weil es »ziemlich einseitig und unausgegoren« wirke. Reiter und seine konservativen Mitstreiter erinnern gern an den ideologiekonformen Kurs, dem DT 64 in Honeckers Zeiten folgte.
1986 als Vollprogramm etabliert, war DT 64 sicher kein Hort der Aufständischen, aber die meisten Mitarbeiter hatten versucht, wie es Moderatorin Silke Hasselmann in klassischem Zonen-Deutsch formuliert, »Grenzen auszuschreiten«. Man durfte Rockmusik spielen und etwas frecher sein als sonst im Staatsfunk üblich. Als die Mauer fiel, setzte die Redaktion sofort die Führungsspitze ab und wählte einen neuen Chefredakteur und neue leitende Redakteure.
Es folgte »eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten«, so der Chef vom Dienst, Andreas Ulrich. Eine Generation von SED-geschulten Journalisten entdeckte die Freiheit und nutzte sie, neue Mitarbeiter kamen aus dem Westen, das Programm wurde frech und kontrovers, dazu noch aufklärerisch, hilfreich und unterhaltsam.
Die Mischung aus 70 Prozent Musik und 30 Prozent Wort animiert täglich rund eine Million Jugendliche in der ehemaligen DDR und in angrenzenden Gebieten zum Einschalten. Sie schätzen die journalistische und musikalische Programm-Alternative zu den konturlosen kommerziellen Dudelwellen: Diskussionen zwischen Lothar de Maiziere und Gregor Gysi etwa, Sendungen mit David Bowie, Hörerforen, Reisereportagen und Rockmusik, die sonst im Radio kaum vorkommt, weil sie sich als pures Hintergrundgeräusch nicht eignet.
»Wir nutzen das Radio wirklich noch als Kommunikationsmittel und als ein Medium, über das sich Hörer austauschen können«, sagt Chefredakteur Michael Schiewack, der den Sender seit gut einem Jahr leitet. Die Jugendlichen »da draußen« seien auf DT 64 angewiesen, nicht zuletzt als Wegweiser durch den bundesrepublikanischen Gesetzeswirrwarr. »Denen ist der Alltag und die Umgebung fremd geworden«, sagt Schiewack, »und deshalb versuchen wir ihnen das Neue wenigstens in einer Sprache zu erklären, die sie verstehen.«
In Zeiten, in denen sich viele Jugendliche im Osten um die Hoffungen, die der Westen weckte, betrogen fühlen, sucht ein Sender wie DT 64 eine neue Identität zu stiften.
»Wenn einer beim Bewerbungsgespräch in Leverkusen nicht mit gebeugtem Rücken daherkommt oder wenn er beim Gedanken, ein Ossi zu sein, auch mal vor Vergnügen aufs Amaturenbrett seines Autos schlägt«, sagt Andreas Ulrich, »dann hat unser Sender schon eine Menge erreicht.« o