MEDIZIN / RAUCHEN Hohles Husten
Im teuersten Hotel der Welt schmieden sie drei Tage lang Pläne für den Kampf gegen das teuerste und verderblichste Vergnügen der Welt. 450 Mediziner, Soziologen und Psychologen aus 35 Ländern beraten von Montag bis Mittwoch dieser Woche in New Yorks High.-Society-Quartier »Waldorf-Astoria«, wie sie die Menschheit (so eines der Vortragsthemen) »aus dem Zigaretten-Schlamassel« ("cigarette mess") erlösen können. Das Ausmaß des Schlamassels war der Öffentlichkeit drei Wochen zuvor wieder vor Augen geführt worden. Am 22. August lehrte das US-Bundesgesundheitsamt die amerikanischen Zigarettenraucher das Gruseln: Es publizierte ein Resümee der neuesten Erkenntnisse über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens, das ein Expertengremium unter Leitung von Dr. Albert C. Kolbye zusammengetragen hatte. Alarmierende Bilanz: Alle 105 Sekunden stirbt ein US-Bürger den Rauchertod. Die Experten hatten mehr als 2000 wissenschaftliche Untersuchungen durchgesehen, die seit dem Terry-Report Anfang 1964 zum Thema »Rauchen und Gesundheit« erschienen sind. Das Ergebnis dieser neuerlichen Fleißarbeit ist, wie die »New York Times« feststellte, »noch bestürzender« als der Terry-Report.
> Hauptursache des Lungenkrebses ist die Zigarette -- diesen Befund des Terry-Reports konnte die Kolbye-Kommission voll bestätigen.
> Zigarettenrauchen kann zum Herzinfarkt führen -- für diesen im Terry-Report nur verdachtsweise angedeuteten Zusammenhang liegen jetzt stichhaltige Beweise vor. Der Herztod entpuppte sich sogar als das gewichtigste Risiko für den Zigarettenraucher. Zwar steigt die Wahrscheinlichkeit des Lungenkrebses bei starken Rauchern (20 und mehr Zigaretten pro Tag) auf mehr als das Zehnfache gegenüber Nichtrauchern, der Herztod dagegen nur um das Zwei bis Dreifache. Da jedoch fast jeder dritte Amerikaner einem Herzschaden erliegt, fällt dieses Zahlenverhältnis viel stärker ins Gewicht als bei Lungenkrebs, der weniger häufig ist. Ursache des zigarettenbedingten Herzschadens ist das bei Lungenzügen ins Blut übertretende Nikotin. Es regt die Herztätigkeit an und steigert den Blutdruck. Das stärker beanspruchte Herz braucht mehr Sauerstoff, aber gerade die Sauerstoffzufuhr ist während des Rauchens vermindert -- weil das mit dem Rauch eingesogene giftige Kohlenmonoxyd sich auf einem Teil der roten Blutkörperchen festsetzt und sie am Sauerstofftransport hindert. Zigarren- und Pfeifenraucher, so konstatierte die Kommission, sind von solch zusätzlichem Infarkt-Risiko kaum bedroht, weil sie im allgemeinen den Rauch nicht inhalieren. Bei den Zigarettenverbrauchern kann die Herz-Belastung über viele Jahre hin aufgefangen werden, wenn des Rauchers Herz ganz gesund ist. Doch schon bei geringen, oftmals unerkannten Herzschäden kann sich der blaue Dunst verhängnisvoll auswirken. Über Infarkt und Lungenkrebs hinaus präsentierte die Kolbye-Kommission noch einen umfänglichen Katalog weiterer Krankheiten, die durch den Zigarettenrauch gefördert werden: Mund-, Rachen-, Speiseröhren-, Kehlkopf- und Blasenkrebs, Lungenblähung (Emphysem), chronische Bronchitis, Magen- und Darmgeschwüre, Schlaganfall, krankhafte Erweiterung der Hauptschlagader, Entzündungen der Stirn- und Kieferhöhlen. Dieses auf den 200 Seiten des Berichts ausgebreitete Mosaik von Krankheitsrisiken summierten die Experten des US-Gesundheitsamtes zu einer makabren Bilanz heimlichen Massensterbens und Massensiechtums:
> Derzeit sind elf Millionen Amerikaner chronisch krank, die ohne Zigaretten noch gesund wären.
> In jedem Jahr sterben 300 000 US-Bürger, die ohne Zigaretten am Leben geblieben wären.
> 77 Millionen Arbeitstage je Jahr gehen der US-Wirtschaft durch Raucher-Krankheiten verloren, an weiteren 307 Millionen Tagen arbeiten die Zigaretten-Süchtigen nur wüt halber Kraft. Einen Tag nach Erscheinen des Kolbye-Reports warf ihm die Vereinigung der US-Zigarettenindustrie »ungenaue und irreführende Interpretation« der vorliegenden wissenschaftlichen Befunde vor. Die Fabrikanten bekümmert es, daß einige Studien, die keine Zusammenhänge zwischen Zigarettenrauchen und irgendwelchen Krankheiten fanden, nicht gewürdigt wurden: Die krank machende Wirkung des Rauchens, so argumentierten sie, sei nicht mit letzter Sicherheit erwiesen. Demgegenüber bemerkte die »New York Times«, der Standard-Kommentar der Zigarettenindustrie ("ungenau und irreführend") habe nunmehr -- angesichts der wissenschaftlichen Beweise -- nur noch »den hohlen Klang eines Hustens auf dem Friedhof. Anders als die Zigarettenindustrie hat wenigstens eine, kaum minder rechentüchtige Branche in den USA geschäftliche Konsequenzen aus den Befunden der Wissenschaftler gezogen: Amerikanische Lebensversicherungen verlangen neuerdings von Nicht-, Pfeifen- und Zigarrenrauchern niedrigere Prämien als von Zigarettenrauchern. Alle Versuche, die Zigarette selber ungefährlicher zu machen, sind bisher über großsprecherische Ankündigungen kaum hinausgelangt, Mit »lauten Fanfaren« ("New York Times") war beispielsweise Mitte Juli von der renommierten Columbia-Universität in New York der angeblich sensationelle Zigarettenfilter des Chemikers Robert L. Strickman angekündigt worden, der in der Lage sei, 70 Prozent des Teer- und Nikotingehaltes aus dem Rauch zu filtern. Fachleute indes nahmen die optimistischen Angaben der Universität -- die sich aus den Lizenzgebühren eine Jahreseinnahme von 100 Millionen Dollar erhofft hatte -- skeptisch auf. In einem Senatsverhör gab schließlich Columbia-Präsident Grayson Kirk zu, daß die Publikation des Filters »voreilig und bedauernswert« gewesen sei. Bis die Erfindung alle nötigen Tests bestanden hätte, könnten noch Monate oder gar Jahre vergehen. Die Bekundungen anderer Forscher lassen es inzwischen zweifelhaft erscheinen, ob eine ungefährliche Filterzigarette überhaupt möglich ist. Zwar könnten geeignete Filter und verbesserte Tabaksorten die Gefahren des Inhalierens mindern. Doch auch solche Filter würden, wie der Chef des amerikanischen Gesundheitsdienstes, William H. Stewart, erläuterte, die im Zigarettenrauch enthaltenen Gase ungehindert passieren lassen, darunter auch das giftige Wasserstoff-Zyanid, das bei der Entstehung von Lungenkrebs und Lungen-Emphysem eine Rolle spielt. Wirksame Filter zu entwickeln, scheint um so schwieriger, als bislang noch nicht einmal alle möglicherweise schädlichen Rauch-Bestandteile ermittelt sind. Allein in den letzten drei Jahren kamen neu auf die Liste:
> Nickel, das den menschlichen Organismus an der Neutralisierung des krebserzeugenden Zigaretten rauch-Bestandteils Benzpyren hindern soll;
> Blei, ein giftiges Metall, das sich allmählich im Körper ansammelt;
> radioaktives Polonium, über dessen Auswirkungen im Körper noch keine Klarheit besteht;
> Myristicin, ein Nervengift;
> Selendioxyd, einer der giftigsten Stoffe auf der Erde -- Spuren davon entstehen bei der Verbrennung von Zigarettenpapier. Die Suche nach den krankheitsfördernden Faktoren im Zigarettenrauch hat gerade erst begonnen. Zwei der überraschendsten Befunde stammen aus der jüngsten Zeit: Zigaretten scheinen um so gefährlicher zu sein, je milder und je länger sie sind. Milde Zigaretten bestehen fast durchweg aus Tabaken, die nicht allmählich an der freien Luft, sondern rasch in künstlicher Hitze getrocknet wurden. Die solcherart behandelten Tabakblätter haben einen besonders hoben Gehalt an Zuckerstoffen. Nun aber fand der Londoner Mediziner Professor Richard Passey: Raucherländer, die solche milden Sorten bevorzugen, haben einen höheren Anteil von Lungenkrebs-Kranken als andere Gegenden, in denen langsam getrocknete Tabake geraucht werden. Ähnlich wie die zu zuckerreichen milden Sorten sind neuerdings auch die zu langen Zigaretten bei den Medizinern in Verruf geraten. So warnte Amerikas oberster Gesundheitswächter Stewart namentlich vor der Zehn -- Zentimeter -- Zigarette ("Super-Size"), die kürzlich in Amerika und auch in Westdeutschland mit großem Werbeaufwand auf den Markt kam. Wer sie raucht, inhaliert bei gleicher Zahl gerauchter Zigaretten erheblich mehr Teer -- wenn er sie auf dieselbe Stummellänge herunterbrennen läßt wie kürzere Sorten: Je länger die Zigarette, um so konzentrierter wird das Rauchkondensat, das sich an ihrem Mundstück-Ende ansammelt und das der Raucher mit den letzten Zügen einsaugt. Gleichwohl: Alle Schreckensmeldungen über die Folgen des Zigarettenrauchens vermögen offenbar die Nikotinsüchtigen nicht zur Abstinenz zu veranlassen. Amerikanische und europäische Raucher lassen derzeit mehr Qualm durch ihre Bronchien strömen als vor dem Terry-Report.
Das geheime Motiv dieser Beharrlichkeit -- die Überzeugung, daß die Hölle für die andern sei -- hielt selbst die besten Kenner des medizinischen Sachverhalts gefangen.
Von den drei Zigarettenrauchern in der zehnköpfigen Terry-Kommission, die 1964 tagte, gaben zwei das Zigarettenrauchen sofort auf. Einer, der Chemie-Professor Louis F. Fieser, blieb dabei, noch anderthalb Jahre.
Im September 1965 wurde sein beginnender Lungenkrebs diagnostiziert. Fieser: »Die Statistik hatte mich kaltgelassen. Aber wenn es einen persönlich trifft -- dann ist es anders.«