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LITERATUR Holländer in Not

Der US-Autor Joseph O'Neill begleitet in seinem packenden Roman »Niederland« einen von Terroranschlägen und Ehezwist verwirrten Den Haager Karrierebanker durch New York.
aus DER SPIEGEL 10/2009

Wehe, wenn es dunkel wird in der großen Stadt: Es ist brütend heiß am Tag des großen New Yorker Blackout, Abertausende Menschen trotten schwitzend durch die Straßenschluchten am Nachmittag des 14. August 2003. Auf dem Dach des Chelsea Hotel drängt sich eine Gruppe Fremder aneinander. Man trinkt und feiert - gegen die Angst.

Das Gerücht, ein Terroranschlag auf ein Kernkraftwerk habe die Stromversorgung lahmgelegt, wird bald dementiert. Jetzt aber fürchtet die Partygesellschaft die Nacht. »Die Menschen verwandeln sich in Wölfe«, raunt einer. Und auch der Bankangestellte Hans van den Broek beobachtet Beunruhigendes. Einen jungen Mann etwa, der sich schwarze Engelsflügel auf den Rücken gepappt hat, »zu Ehren dieses besonderen Anlasses«. Schon kreischt irgendwer, der Knabe habe sich in die Tiefe hinabgestürzt.

Die Szene auf dem Hoteldach (und die Rettung des Engels) ist ein Herzstück des Romans »Niederland«, der dem 1964 geborenen Autor Joseph O'Neill spektakuläres Lob und dazu gerade erst den angesehenen PEN/Faulkner-Preis eingebracht hat*. Das Buch sei das »geistreichste, zornigste, anspruchsvollste und verzweifeltste«, das über das Leben in New York nach dem Terror des 11. September 2001 geschrieben worden sei, behauptete der Kri-

ker der »New York Times Book Review« - und wischte damit andere wichtige Post-9/11-Bücher von Jonathan Safran Foer ("Extrem laut und unheimlich nah") und Don DeLillo ("Falling Man") locker beiseite. Auf einen »großen literarischen Wurf« erkannte der »New Yorker«.

»Niederland« erzählt in der Tat eine kunstvoll verschraubte Geschichte, in deren Zentrum die beiden ersten Jahre in New York nach der Attacke auf das World Trade Center stehen - im Rückblick geschildert von Hans van den Broek, einem aus Holland stammenden Banker. Er ist Mitte dreißig, Experte für die Bewertung von Öl-Aktien und berichtet, wie er in jener Zeit durch eine private Krise schlitterte und sich mit einem seltsamen Mann anfreundete: mit Chuck Ramkissoon, einem zwei Jahrzehnte älteren Einwanderer aus Trinidad und höchst windigen Geschäftsmann.

Was die beiden fast grotesk ungleichen Männer in New York zueinanderfinden ließ, war die Begeisterung für ein apartes Ballspiel. Hans und Chuck lieben Cricket. Sie lernen sich auf einem Sportplatz auf Staten Island kennen, der eine ist Spieler, der andere Schiedsrichter.

Nun ist Cricket ein Freizeitvergnügen, das in England und vielen seiner ehemaligen Kolonien von den Massen bejubelt, in den USA (und in Deutschland) aber sträflich missachtet wird. Trotzdem, und das ist eine der Überraschungen von »Niederland«, erfährt man in diesem Buch ungefähr so viel über den sehr unamerikanischen Sport Cricket, wie man einst über den sehr amerikanischen Sport Baseball in Don DeLillos Roman »Unterwelt« (1997) mitgeteilt bekam. In beiden Fällen ist das entschieden zu viel, bei aller Bewunderung des unwissenden mitteleuropäischen Lesers für die Leibesübungsmetaphysik. »Das Wesen von Erde ist, wie das Wesen von Luft, Veränderungen unterworfen«, lehrt O'Neill etwa über das ideale Cricketfeld.

Zum Glück schleppt jeder der Romanhelden eine Geschichte mit sich herum, die aufregender ist als ihr Sport.

Hans van den Broek steht im Frühjahr 2002 vor den Trümmern seines Familienlebens. Seine Frau Rachel, eine Anwältin, zieht mit dem gemeinsamen kleinen Sohn Jake ins heimatliche London zurück, weil sie sich seit dem Anschlag auf das World Trade Center einsam fühlt. »Du hast mich im Stich gelassen, Hans«, schluchzt sie, als sie aus dem Chelsea Hotel auszieht.

Für den verlassenen, verwirrten Hans ist in den folgenden Monaten der stets etwas zu aufdringliche Cricket-Sportsfreund Chuck eine nette Ablenkung - bis Hans selbst nach London geht. Chuck ist ein Glücksritter, der mit koscherem Sushi handelt und illegale Wettgeschäfte betreibt. Und ein bewegender Geschichtenerzähler, der das Unglück seiner Kindheit auf Trinidad ebenso farbig ausschmückt wie seine Begeisterung für ein New York, in dem er des Öfteren rassistisch angepöbelt wird.

Überhaupt verschaffen die Ausflüge in das lustige ethnische Chaos der Vorstadtwelt, die Hans durch Chuck kennenlernt, diesem Roman einen flirrenden Reiz. Hier presst man das Gesicht eines Wettschuldners so lange in einen Topf voller Blumenerde, bis dem die Luft wegbleibt: wie brutal. Und hier zetern in einer öffentlichen Sauna russischstämmige Greise über den Aufstiegseifer der Einwanderer aus Pakistan: wie schäbig. Chuck nennt seine Welt »das wirkliche Brooklyn«.

Hier, in Brooklyn, möchte er ein riesiges Cricketstadion errichten, um der Welt den angeblich friedensstiftenden Segen dieser Sportart beizubringen. »Es hat einen moralischen Aspekt. Jeder, der das Spiel spielt, profitiert davon«, sagt Chuck. Und erläutert: »Die Amerikaner können die Welt nicht richtig sehen.« Daher die Probleme des Landes, »ein einziger Schlamassel«.

Die bittere Pointe von O'Neills Roman liegt darin, dass er den idealistischen Träumer Chuck untergehen lässt. Er, der kleinkriminelle Virtuose der Durchwuselei, landet kurz nach Hans' Wegzug in einem New Yorker Kanal, sein Leichnam wird erst Jahre später gefunden. Die Täter, wohl üble Geschäftspartner, haben Chuck mit Handschellen gefesselt und im Wasser versenkt.

Dem hoffnungslosen Hans aber beschert »Niederland« eine waghalsige Wendung zum Glück. Bei einem London-Besuch bekommt er mit, dass seine Frau sich einen Liebhaber zugelegt hat. Also fasst er sich ein Herz, beschließt, um Ehe und Sohn zu kämpfen und endlich auch nach England zu ziehen. Anders als in New York, wo alle die Apokalypse im Herzen trügen, hätten sich die gleichfalls terrorgeplagten Londoner eine »dem Leben zugewandte Unbeschwertheit« bewahrt, behauptet Hans einmal.

Der Autor O'Neill ist selber ziemlich weltgewandt. Der Sohn eines irischen Vaters und einer türkischen Mutter wuchs in den Niederlanden auf, studierte Jura in Cambridge und lebt seit vielen Jahren in New York. Er wohnt tatsächlich im Chelsea Hotel, mit seiner Frau und drei Söhnen, die auch im Buch vorzukommen scheinen, wenn vom Lärm ihrer Ballspiele und Bobby-Car-Fahrten im Hotelflur die Rede ist.

Das atmosphärisch dichte Epochenporträt, das Joseph O'Neill in »Niederland« gelingt, wird manchmal getrübt durch die gespreizte Sprache, die er seinem Helden aufzwingt. In der Übersetzung wirken Sätze wie »Ein pfeifendes Schluchzen entrang sich meiner Brust« unfreiwillig erheiternd.

Ärgerlicher als dieser lyrische Überschuss des Autors sind ein paar sachliche Ungereimtheiten. So düst der von Sehnsucht gequälte Hans »mit der Satellitenfunktion von Google als Fluggerät« nach London; auf dem Computer betrachtet er das Haus, in dem sein Sohn schlummert - im Frühling 2003. Das für den Trip nötige Programm Google Earth kam aber erst 2005 heraus.

Noch bizarrer ist es, wenn Rachel und Hans mit Jake gegen Ende des Buchs einen Weihnachtsurlaub an der Südspitze Indiens verbringen, im Jahr 2004. Es sind herrliche Festtage, man sieht »Ausländer sich auf Liegestühlen räkeln« und feiert bis zum Anfang des neuen Jahres sorglos am Strand.

Da erforscht O'Neill die Großkatastrophen der jüngsten Vergangenheit und die Seelenqualen, die aus ihnen folgten - aber er erwähnt mit keinem Wort den Tsunami des 26. Dezember 2004, der rund um den Indischen Ozean mehr als 225 000 Menschen tötete. Wie kommt's? Zu viele Sportflausen im Kopf? Oder zu viel New York? Eine Überdosis postapokalyptischer Unbeschwertheit? In jedem Fall ein krasser literarischer Blackout. WOLFGANG HÖBEL

* Joseph O'Neill: »Niederland«. Aus dem amerikanischen Englischvon Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek; 320 Seiten; 19,90Euro.

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