Holocaust-Projekt "Meine Fotos sind Spiegel für alle"

Der Fotograf Anton Kusters hat mehr als tausend Orte ehemaliger Konzentrationslager in Europa bereist - und den Himmel darüber fotografiert. Wie stark ist Erinnerungskultur in Deutschland?
Ein Gespräch von Carola Padtberg
Für sein "Blue Skies Project" fuhr Fotograf Anton Kusters zu 1078 Orten ehemaliger Nazi-Lager

Für sein "Blue Skies Project" fuhr Fotograf Anton Kusters zu 1078 Orten ehemaliger Nazi-Lager

Foto: Anton Kusters

SPIEGEL: Herr Kusters, Sie haben 1078 Mal den blauen Himmel fotografiert. Warum?

Kusters: Ich war in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und fühlte den Schrecken der Vergangenheit. Ich wollte dort etwas fotografieren, etwas sagen. Doch ich fühlte mich sprachlos. Ich produzierte lediglich eine überbelichtete Aufnahme des blauen Himmels. Es war der Anfang eines fünfjährigen Reiseprojektes: Ich wollte verstehen, was 1943 geschehen war, als die SS zum Haus meines Großvaters kam und ihn deportieren wollte. Er konnte fliehen, sprach aber nie wieder darüber, bis er starb. Ich beschloss, zu allen Konzentrationslagern zu fahren und die Reise fotografisch zu dokumentieren. Damals nahm ich noch an, es hätten 23 Lager existiert, das hatte ich in der Schule gelernt.

Fotostrecke

Fotostrecke: Himmel über dem Terror

Foto: Anton Kusters

SPIEGEL: Wie wurden daraus 1078 Konzentrationslager?

Kusters: Viele Menschen wissen über die großen Lager wie Auschwitz und Dachau Bescheid, doch das waren nur die Hauptlager. Daneben gab es auch temporäre Außenlager, manchmal für viele Jahre mit Zehntausenden Häftlingen, manchmal auch nur für ein paar Tage, sie reichten von Südfrankreich bis Estland. Wo sie waren und wie viele Menschen dort jeweils starben, steht in der "Encyclopedia of Camps and Ghettos" des US Holocaust Museums in Washington . Ich habe die GPS-Koordinaten und Opferzahlen auf meinen Fotos notiert. Manchmal musste ich dort „geschätzt“ oder „unbekannt“ hinschreiben. Das war das Schlimmste für mich. Das letzte Bild habe ich im September 2017 auf der englischen Insel Alderney aufgenommen.

SPIEGEL: Was fanden Sie an Ihren Reisezielen vor?

Kusters: Nur an der Hälfte der Orte gibt es ein Denkmal oder einen Hinweis auf das, was passiert ist. Manchmal stand ich auch auf einem Acker, einem Parkplatz oder vor einem Supermarkt. Das ist entsetzlich und so normal zugleich.

SPIEGEL: Warum?

Kusters: Weil einerseits die Geschichte vernachlässigt wird, die vielen Opfer werden anscheinend vergessen, das fühlt sich grausam an. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht. Wo vor 80 Jahren Menschen getötet wurden, regieren heute Konsum und Kapitalismus. Einige Menschen leben in kompletter Unwissenheit.

SPIEGEL: Auch in Deutschland?

Kusters: Nein, dort sind Menschen eher geschichtsbewusst. In Flossenbürg etwa entstanden neue Häuser und Wohnungen für junge Familien dort, wo 100.000 Juden, politische Gegner und gesellschaftliche Außenseiter inhaftiert, ausgebeutet und ermordet worden waren. Heute leben dort etwa 1500 Menschen. Anfangs fand ich es seltsam, dass dort jemand wohnen will. Aber die Leute sagten zu mir: „Wir wollen kein Denkmal, das von diesem Ort das normale Leben für immer verbannt. Wir entscheiden uns für das Leben, obwohl wir wissen, was passiert ist.“ Das war stark.

Zur Person
Foto: privat

Fotograf Anton Kusters, 45, befasst sich mit den Themen Trauma und Erinnerungskultur. Er studierte Politikwissenschaft und Fotografie in Belgien, anschließend lebte er einige Jahre in Japan, um die dortigen kriminellen Organisationen Yakuza fotografisch zu dokumentieren. Für "The Blue Skies Project" reiste er von 2011 bis 2017 durch Europa, das Werk von 1078 Polaroids inklusive einer Soundinstallation ist noch bis 2021 im US Holocaust Memorial Museum in Washington, DC zu sehen.

The Blue Skies Project Homepage von Anton Kusters

SPIEGEL: Ist starke Erinnerungskultur ein typisch deutsches Phänomen?

Kusters: Nationen in Europa scheinen sehr unterschiedlich mit ihren Traumata umzugehen. In Deutschland gibt es sehr gut gemachte, didaktisch klar formulierte Gedenkstätten. In Polen pflegt die Regierung ein nationalkonservatives Geschichtsbild, ganz zu schweigen von Russland. In Belgien gibt es erst seit zehn Jahren einen Hinweis auf Verbrechen im Kongo in den Geschichtsbüchern. Natürlich darf man keine direkten Vergleiche anstellen. Aber mir fiel auf, dass es in Deutschland eher möglich ist, über die schwierige Vergangenheit zu sprechen.

SPIEGEL: Ihre Fotos des Himmels sind ästhetisch – tragen aber nicht unbedingt zur faktischen Aufklärung bei.

Kusters: Mein Ansatz ist abstrakt. Die Bilder vermitteln Unendlichkeit und Leere, doch die Zahlen darunter zwingen dazu, über die eigenen Gefühle nachzudenken. Sie fragen jeden Betrachter: Was denkst du darüber? Wie gehst du mit Trauma um? Wie würdest du daran arbeiten, dass all dies nie in Vergessenheit gerät?

SPIEGEL: Welche Antworten hören Sie?

Kusters: Ich musste eine Bank vor die Installation in Washington stellen, weil die Menschen lange bleiben, um nachzudenken und zu reden. Nicht nur über den Holocaust, sondern über alles, was mit Trauma zu tun hat. Zum Beispiel kam ein Tutsi zu mir, der den Völkermord in Ruanda überlebt hat und sagte: "Die blauen Himmel sehen aus wie Vollmondnächte in Ruanda. Es erinnert mich daran, wie sie mich verfolgten."

SPIEGEL: Und das freut Sie?

Kusters: Ja, denn meine Absicht ist es, Erinnerung am Leben zu erhalten.

SPIEGEL: Mit Polaroids haben Sie allerdings eine sehr vergängliche Technik gewählt. Ihre Kunst wird nicht lange halten.

Kusters: Nichts kann für immer existieren. Bald werden die letzten Überlebenden des Holocaust und die letzten Menschen, die im Krieg waren, sterben. Wir werden vergehen, also wird es auch meine Arbeit tun. Ich möchte sogar noch weiter gehen: Mein Plan ist, die Polaroids an einem festen Ort zu installieren und dort Klimabedingungen zu schaffen, die die Bilder innerhalb von 13 Jahren verwittern lassen.

SPIEGEL: Aber wollten Sie nicht eben noch zukünftige Generationen dazu bringen, den Holocaust in Erinnerung zu behalten?

Kusters: Die verwitternde Installation von 4432 Tagen wäre exakt so lang wie die Zeitspanne von der Eröffnung des ersten Konzentrationslagers im Jahr 1933 bis zur Schließung des letzten im Jahr 1945. Der niederländische Sound-Künstler Ruben Samama  hat dazu eine Soundinstallation gemacht, die ebenfalls 13 Jahre dauert. Es wäre ein Symbol für das Vergessen – und für die Frage, was wir als Nächstes tun können. Ich möchte zukünftigen Generationen nicht vorschreiben, wie sie gedenken sollen. Es ist ihre Entscheidung. Ich weiß nur, dass sie es tun müssen.

SPIEGEL: Sie meinen die zukünftigen Generationen der Deutschen, denen dabei eine Schlüsselrolle zukommen sollte?

Kusters: Nicht unbedingt. Ich selbst bin Belgier und arbeite seit vielen Jahren zu Erinnerungskultur. Es ist ein kollektiver Schlüsselmoment, mit dem sich jede Generation nationenübergreifend erneut auseinandersetzen sollte. Das kann als Vehikel genutzt werden, um über die Flüchtlingskrise zu sprechen oder darüber, was mit allen rechten Parteien in Europa geschieht. Reflexion ist immer gut. Ich möchte, dass die Oberfläche meiner Polaroids so glänzend ist, dass sie ein Spiegel für alle sind, die sie betrachten. 

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