LAUTENSACK Hübsch animalisch
Seine Zeit- und Zunftgenossen priesen ihn als »Satanisten der Erotik«. Der Literat Franz Blei wiederum rühmte die »nie klagende Armut, die katholische Demut dieses bäurischen Dichters«. Gottfried Benn entdeckte in ihm schlicht »das Schwein als Genie«.
Heinrich Lautensack, 1881 im niederbayrischen Vilshofen geboren und in der Bischofsstadt Passau aufgewachsen, beschrieb in seinen exaltierten Gedichten, Brettl-Versen, Prosastücken und Schauspielen meist possenhaft, immer deftig, die Bettfreuden und Beichtstuhl -Nöte seiner Landsleute aus dem Bayrischen Wald.
Er lieferte bajuwarisch stilisierte »Documente der Liebesraserei« (so der Titel einer lyrischen Lautensackiade) und gab, nebst teilfrommen »Altbayrischen Bilderbogen« in Prosa, unter anderem eine »Pfarrhauskomödie« voller Weihrauch und Priester-Sex zum besten.
So explosiv allerdings diese Mischung von Brunst und Inbrunst auch sein mochte - besonders wirksam, dafür sorgten die Polizeizensoren des deutschen Kaiserreichs, war sie nicht.
Lautensacks Stücke wurden während seines kurzen Lebens zwar gedruckt; gespielt jedoch wurden sie in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Tod des Autors - er starb 1919 mit 37. Die restlichen Lautensack -Produkte, oft mit graphischen Zutaten (etwa von Alfred Kubin und Max Beckmann) als Liebhaberausgaben in geringer Auflage publiziert, sind längst verschollen.
Nun aber soll der Passauer Poet neu und gründlich entdeckt werden: Im Oktober bringt der Münchner Carl Hanser Verlag seine »Gesammelten Werke« auf den Markt. Das erste Lautensack-Buch seit vierzig Jahren zeigt nun endlich (so Herausgeber Wilhelm Lukas Kristl) »den ganzen Lautensack, den Lyriker, Dramatiker, Prosaisten"**.
In jedem Fall zeigt es ländlich-katholische Lautensack-Typen, die nach des Dichters Willen »hübsch animalisch aus- und einatmen«. In der »Pfarrhauskomödie« etwa schwängert Hochwürden Achatius Archaz seine Köchin Ambrosia und möglicherweise auch noch deren Aushilfskraft.
Im Einakter »Medusa« (Untertitel: »Aus den Papieren eines Mönchs") vereinigt sich eine häßliche Krämerstochter mit ihrem Bruder zu schwülem Liebesgestammel. In der Komödie »Hahnenkampf« (Schauplatz: »Zu Hauzenberg, einem Marktflecken im Bayrischen Wald") balgen sich sechs »Liabhaber« - Feuerwehrhauptmann, Braumeister, Apotheker, Polizeikommandant. Schullehrer und Gendarm bis zum Mord um die hübsche, wohlfeile Innocentia.
Und nicht minder derb, komisch und bayrisch geht es in Lautensacks Lyrik zu. Neben einem mystischen »Text zu einer Kantate« mit dem Titel »Via crucis« (Herausgeber Kristl: »Phantastischer Surrealismus, erhabene Besoffenheit und bigottisches Delirium") machte sich der Donau-Dichter beispielsweise einen Vers auf »Das Korsett« ("Weh! könnt' ich mein Mieder lüften!"). Er verfaßte einen Monolog »Onan« und eine »Apotheose des Bidets«; er dichtete: »Dein Leib, der ist ein Garten reich, darin ich selig weide; in seiner Mitten glüht ein Teich.«
Einen Teil seiner Verse hatte, der jugendliche Lautensack für die »Elf Scharf richter« geschrieben - unter ihnen: Regisseur Otto Falckenberg. Dramatiker Frank Wedekind, Verleger Reinhard Piper -, die 1901 in einer Schwabinger Kneipe ihr Kabarett eröffneten, das in die Literaturgeschichte eingegangen ist.
Lautensack, Sohn eines Jahrmarkttrödlers, war vor der Jahrhundertwende nach München gekommen, um Geometer zu werden. Doch Schwabing sagte dem eher melancholischen Bruder Lustig mehr zu. Der »Passauer Lackl« mit Zwicker und hohem Stehkragen, »ein magerer, langer, grotesk aussehender Kerl mit einer schwarzen Mähne und aufgerissenem Gesicht« (Falckenberg), wurde »Henkersknecht« bei den »Scharfrichtern«.
Er diente der Brettl-Diva Marya Delvard - Kristl: »Urmutter aller Vamps auf Bühne und Filmleinwand« - als Hausdichter und Liebhaber und heiratete mit 23 die Kabarettistin Dora Stratton.
Nach Auflösung der Münchner Kleinst-Bühne landete Lautensack in Berlin, ohne Dora, brettl-müde und abgerissen wie je. Er hielt sich durch Übersetzungen am Leben, schrieb für die Expressionisten-Zeitschriften 'Die Aktion« und »Das neue Pathps«, verfaßte einen parodistischen Kriminalroman und ging schließlich, seit 1910 mit der Chanson-Sängerin Betty Eisner verheiratet, als Dramaturg zum »Kinematographen«. Lautensack: »Die berühmte Henny Porten hält große Stücke auf mich.«
Weniger hielten die Zensoren von den Stücken Lautensacks. Der sexzentrische Dramatiker, ein Bewunderer von Frank Wedekind ("Frühlings Erwachen"), mochte schreiben, was er wollte - seine niederbayrischen Betthupferl wurden für die Bühne ebenso verboten wie manche der erotomanischen Wedekindereien.
1912 suchte Lautensack in der »Aktion« nach »einem Weg zur Überwindung des Zensors": »Baldowern - ei ja: baldowern wir uns eine Gelegenheit aus, dergegenüber die Polizei einmal ohnmächtig ist mit ihrer ewigen und schnell bereiten Umstellung und Aushebung, als ob's faktisch das infamste Verbrechernest gälte. Mit einem Wort ... Gründen wir das Heimliche Theater.«
Das »Heimliche Theater« kam nicht zustande. Statt dessen zog Lautensack, der »verwehte Sendling eines obskuren katholischen Bauernlandes« (Kristl), als Telegraphist nach Samland in den Ersten Weltkrieg. Als der Krieg fast zu Ende war, war es mit Lautensack ganz aus: Der Dichter ("Und grad taumelnd ist mir"), zeitlebens ein Experte für Räusche und Ekstasen, wurde wahnsinnig. Kristl: »Die Nachricht vom Tode seines - vermeintlichen - Meisters Wedekind löste die Katastrophe aus.«
Dem Ex-»Scharfrichter« Otto Falckenberg zufolge kam der Zusammenbruch 1918 bei Wedekinds Totenfeier auf dem Münchner Waldfriedhof: »Hinter den bedeutendsten Vertretern von Literatur, Theater und Kunst aus ganz Deutschland war ein bunter Schwarm von zweideutigen Mädchen und halbwüchsigen Burschen erschienen ... Und mitten unter ihnen: Heinrich Lautensack, eine Leiter bald auf den Schultern, bald von ihr herab einen Kurbelkasten bedienend, soeben mit einem Filmoperateur aus Berlin eingetroffen ... mit seinen riesigen ungelenken Armen und gellendem Geschrei die irre Menge für eine Aufnahme dirigierend.«
Als der Sarg hinabgesenkt wurde, so berichtet Falckenberg, durchbrach Lautensack die mühsam wiederhergestellte Ordnung, warf einen Kranz roter Rosen ins Grab, stürzte nieder und schrie: »Frank Wedekind, meinem Lehrer, meinem Vorbild, meinem Meister - dein unwürdigster Schüler.«
Lautensack starb ein Jahr später, Anfang 1919, in der Nervenheilanstalt von Eberswalde bei Berlin. Kritiker Alfred Kerr trauerte ihm nach: »Sollst gesegnet sein armer Lautensack.«
Der Segen kam schnell. Noch im selben Jahr wurde in München mit Herrmine Körner und Wilhelm Dieterle sein Schauspiel »Das Gelübde« (Hauptschauplatz: das Kapuzinerkloster zu Maria -Hilf) uraufgeführt. 1920 folgte, mit Lucie Höflich, die Berliner Premiere der »Pfarrhauskomödie«. Sie provozierte Applaus und Skandal, brachte es auf 200 Berliner Aufführungen und wurde anschließend auf mehr als 100 deutschsprachigen Bühnen nachgespielt.
Mit demselben Stück soll Heinrich Lautensack jetzt auch fürs deutsche Theater wiederentdeckt werden. Denn nicht nur der Hanser Verlag, auch Maria Schell ist um eine Lautensack -Renaissance bemüht. Ihre Wandertruppe, mit der sie Anfang Oktober von Salzburg über Stuttgart auf Tournee geht, hat neben Genets »Zofen« auch Lautensacks »Pfarrhauskomödie« bereits gründlich einstudiert.
** Heinrich Lautensack: »Das verstörte Fest. Gesammelte Werke«. Carl Hanser verlag, München; 536 Seiten; 96 Mark.
Dichter Lautensack
»Grad taumelnd ist mir«
Lautensacks »Pfarrhauskomödie"*
»Baldowern wir uns ...
Lautensack-Idol Wedekind* ... eine Gelegenheit aus«
* Links: Berliner Premiere 1920 mit Lucie Höflich und A. E. Licho. - Rechts: Frank und Tilly Wedekind in Wedekinds »Die Zensur« 1969 in München.